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Der Meister

Der Meister

Titel: Der Meister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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erschrocken die Luft angehalten, als das kalte Wasser ihre Haut berührt hatte. Aber es war nicht die beißende Kälte des Wassers, an die sie sich jetzt, nach all den Jahren, erinnerte, es waren vielmehr die Blicke ihrer Brüder, die sie siedend heiß im Rücken gespürt hatte, ihr Spott, der sie weiter und weiter in die atemberaubende Kälte hinausgetrieben hatte. Und so war sie weitermarschiert, bis das Wasser ihr an die Knie gereicht hatte, dann bis zur Hüfte und schließlich bis zu den Schultern, und sie war nicht ein einziges Mal stehen geblieben, hatte nicht eine Sekunde gezaudert. Sie hatte sich überwunden, weil es nicht der Schmerz war, den sie am meisten fürchtete, sondern die Demütigung.
    Jetzt lag Old Orchard Beach hundertfünfzig Kilometer hinter ihnen, und was sie durch das Fenster erblickte, hatte mit dem Maine ihrer Kindheit wenig gemeinsam. So weit nördlich gab es keine Uferpromenaden oder Karussells mehr; stattdessen sah sie nur Bäume und grüne Wiesen und hier und da eine kleine Siedlung, die sich um einen weißen Kirchturm herum gruppierte.
    »Alice und ich, wir kommen jeden Juli hierher«, sagte Frost.
    »Ich bin hier noch nie gewesen.«
    »Noch nie?« Der verblüffte Blick, den er ihr zuwarf, ärgerte sie. Ein Blick, der sagte: Wosind Sie denn überhaupt gewesen!
    »Hatte nie einen Grund dazu«, sagte sie.
    »Alices Familie hat ein Sommercamp auf der Little Deer Isle; da machen wir immer Urlaub.«
    »Komisch, ich hätte nicht gedacht, dass Alice sich fürs Camping begeistern kann.«
    »Ach, sie sagen ja nur ›Camp‹ dazu, in Wirklichkeit ist es ein richtiges Haus mit Bad und fließend heißem Wasser.«
    Frost lachte. »Alice würde sich bedanken, wenn sie zum Pinkeln in den Wald gehen müsste.«
    »Nur Tiere sollten in den Wald pinkeln müssen.«
    »Ich mag Wälder. Wenn ich hier oben leben könnte, ich würde keine Sekunde zögern.«
    »Und auf die ganzen Annehmlichkeiten der Großstadt verzichten?«
    Frost schüttelte den Kopf. »Ich sage Ihnen, worauf ich liebend gerne verzichten würde. Auf die ganzen schlechten Seiten der Stadt. Auf all die Sachen, bei denen man sich einfach nur noch fragt, was eigentlich in die Leute gefahren ist.«
    »Glauben Sie wirklich, dass es hier oben besser ist?«
    Er schwieg und blickte geradeaus auf die Straße, während links und rechts die Bäume vorüberzogen wie ein endloser grüner Wandteppich.
    »Nein«, antwortete er schließlich. »Das ist ja der Grund, weshalb wir hier sind.«
    Sie blickte aus dem Fenster und dachte: Der Täter ist auch hier entlanggefahren. Der Dominator, auf der Suche nach Beute. Vielleicht hatte er ebendiese Straße genommen, hatte dieselben Bäume gesehen, vielleicht sogar an derselben Bude am Straßenrand Rast gemacht und ein Hummersandwich gegessen. Mörder gibt es nicht nur in der Großstadt. Manche streifen übers Land oder durch die Straßen der Kleinstädte, wo die Nachbarn einander noch trauen und Haustüren oft unverschlossen sind. Hatte er hier nur Urlaub gemacht und dabei zufällig eine Gelegenheit erspäht, die er sich nicht entgehen lassen konnte? Auch Mörder machen mal Ferien. Sie fahren aufs Land hinaus und genießen den Duft des Meeres, so wie alle anderen. Sie sind nun einmal Menschen aus Fleisch und Blut.
    Durch die Bäume konnte sie schon ab und zu das Meer sehen, die Granitfelsen der Küste. Ein wildromantischer Anblick, den sie besser hätte genießen können, wenn sie nicht gewusst hätte, dass der Täter auch hier gewesen war.
    Frost verlangsamte die Fahrt und spähte suchend durch die Windschutzscheibe. »Haben wir die Abzweigung verpasst?«
    »Welche Abzweigung?«
    »Wir hätten an der Cranberry Ridge Road rechts abbiegen sollen.«
    »Ich habe nichts gesehen.«
    »Wir fahren schon viel zu lange auf dieser Straße. Die Abzweigung hätte längst kommen müssen.«
    »Wir sind jetzt schon spät dran.«
    »Ich weiß, ich weiß.«
    »Besser, wir rufen gleich Gorman an. Und erzählen ihm, dass die zwei Trottel aus der Großstadt sich im Wald verirrt haben.« Sie klappte ihr Handy auf und runzelte die Stirn, als sie das schwache Netzsignal sah. »Glauben Sie, dass wir von hier draußen seinen Beeper erreichen können?«
    »Moment mal«, sagte Frost. »Ich glaube, wir haben noch mal Glück gehabt.«
    Ein Wagen mit dem Kennzeichen der Maine State Police parkte in einiger Entfernung vor ihnen am Straßenrand. Als sie auf gleicher Höhe waren, hielt Frost an, und Rizzoli drehte ihr Fenster herunter, um mit dem

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