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Der Meister

Der Meister

Titel: Der Meister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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zur Bucht von Blue Hill. Ein Düsenjet zog einen weißen Strich über den blauen Himmel, und unter ihnen riss ein Boot eine Furche in die stille Meeresoberfläche. Rizzoli stand einen Augenblick lang schweigend da und ließ die Aussicht auf sich wirken, die Maria Jean Waite ebenfalls genossen haben musste.
    »Erzählen Sie uns etwas über diese Leute«, sagte sie.
    »Haben Sie die Akte gelesen, die ich Ihnen gefaxt habe?«
    »Ja. Aber ich habe kein Gefühl dafür bekommen, was das für Menschen waren. Was in ihnen vorging.«
    »Können wir das je wirklich wissen?«
    Sie drehte sich zu ihm um, und jetzt fiel ihr der leichte Gelbstich in seinen Augen auf. Die Nachmittagssonne schien seine kränkliche Gesichtsfarbe noch stärker hervorzuheben.
    »Fangen wir mit Kenneth an. Er war doch derjenige mit dem Geld, nicht wahr?«
    Gorman nickte. »Er war ein Arschloch.«
    »Darüber habe ich in dem Bericht aber nichts gelesen.«
    »Manches kann man in einem Bericht eben nicht schreiben. Aber in dem Punkt war sich die ganze Stadt so ziemlich einig. Wissen Sie, bei uns hier oben laufen eine ganze Menge von diesen Sprösslingen aus reichen Familien herum, so wie Kenny einer war. Blue Hill ist inzwischen die Adresse für wohlhabende Großstadtflüchtlinge aus Boston. Mit den meisten gibt es ja auch keine Probleme. Aber dann kommt immer mal wieder so ein Kenny Waite daher mit seinem Gehabe à la ›Wissen Sie überhaupt, wen Sie vor sich haben?‹ Ja, wir wussten allerdings, wen wir vor uns hatten. Einen reichen Flegel.«
    »Wo kam das Geld her?«
    »Von seinen Großeltern. Reederei, glaube ich. Mit Sicherheit hat Kenny es nicht selbst verdient. Aber ausgegeben hat er es umso lieber. Hatte eine nette kleine Hinckley-Jacht unten im Hafen liegen. Und ist immer zwischen hier und Boston hin- und hergerast mit seinem roten Ferrari. Bis sie ihm den Lappen weggenommen und die Karre beschlagnahmt haben. Zu viele Verwarnungen wegen Alkohol am Steuer.«
    Gorman schnaubte verächtlich. »Ich glaube, damit ist so ziemlich alles über Kenneth Waite III. gesagt. Viel Geld, wenig Hirn.«
    »Was für eine Verschwendung«, sagte Frost.
    »Haben Sie Kinder?«
    Frost schüttelte den Kopf. »Noch nicht.«
    »Wenn Sie sich einen Haufen nutzlose Blagen heranziehen wollen«, sagte Gorman, »dann müssen Sie ihnen nur einen schönen Batzen Geld in den Rachen schieben.«
    »Und Maria Jean?«, fragte Rizzoli. Sie erinnerte sich an die sterblichen Überreste der rachitischen Frau auf dem Autopsietisch. Die verbogenen Schienbeine und das verformte Brustbein – Zeugen einer in Armut verbrachten Kindheit.
    »Sie war nicht immer reich. Habe ich Recht?«
    Gorman nickte. »Sie ist in einer Bergarbeiterstadt unten in West Virginia aufgewachsen. Irgendwann im Sommer ist sie hierher gekommen, um als Bedienung zu jobben. So hat sie Kenny kennen gelernt. Ich glaube, er hat sie nur deswegen geheiratet, weil sie die Einzige war, die sich sein unmögliches Benehmen gefallen ließ. Aber ich hatte nicht den Eindruck, dass es eine glückliche Ehe war. Erst recht nicht nach dem Unfall.«
    »Unfall?«
    »Das war vor ein paar Jahren. Kenny saß am Steuer, wie üblich voll bis obenhin. Hat die Kiste um einen Baum gewickelt. Er hatte nicht mal einen Kratzer – der Glückspilz. Aber Maria Jean lag drei Monate im Krankenhaus.«
    »Das muss der Unfall gewesen sein, bei dem sie sich den Oberschenkel gebrochen hat.«
    »Wie?«
    »Ihr Oberschenkelknochen war mit einem Nagel gerichtet. Und sie hatte zwei künstlich versteifte Wirbel.«
    Gorman nickte. »Ich habe gehört, dass sie danach gehinkt hat. Eine echte Schande. Sie war nämlich wirklich eine attraktive Frau.«
    Und hässlichen Frauen macht es ja nichts aus, wenn sie hinken, dachte Rizzoli, doch sie behielt den Gedanken für sich. Sie ging zu der Regalwand hinüber und betrachtete ein Foto, das ein Paar in Badekleidung zeigte. Sie standen an einem Strand, wo das türkisfarbene Wasser um ihre Knöchel spielte. Die Frau war sehr zierlich gebaut, fast wie ein Kind, mit dunkelbraunen Haaren, die ihr bis über die Schultern fielen. Unwillkürlich musste Rizzoli an die verfilzten Haare am Schädel der skelettierten Leiche denken. Der Mann war hellblond, mit einem beginnenden Rettungsring um die Hüften und Muskeln, die allmählich dem Wohlstandsspeck wichen. Sein Gesicht, das im Grunde nicht unattraktiv war, wurde durch die dümmlich-arrogante Miene entstellt, die er zur Schau trug.
    »Die Ehe war also unglücklich?«, fragte

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