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Der Meister

Der Meister

Titel: Der Meister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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eine typische Hautreaktion. Zuerst ist ein Erythem zu erkennen – kleine rote Punkte – und anschließend eine ausgedehnte Rötung, verursacht durch die Weitung der Blutgefäße unter der Haut. Und im dritten Stadium tauchen dann diese Quaddeln auf, die sich infolge der gesteigerten Durchlässigkeit der Gefäße ausbilden.«
    »Für mich sieht das nach einer Taser-Narbe aus.«
    Isles nickte. »Genau. Was Sie hier sehen, ist die klassische Hautreaktion auf eine Attacke mit einem Elektroschockgerät vom Typ Taser. Das hat ihn mit Sicherheit außer Gefecht gesetzt. Ein Schuss – und schon verliert er jegliche Kontrolle über seine Muskulatur. Auf jeden Fall lange genug, um dem Angreifer zu ermöglichen, ihn an Händen und Füßen zu fesseln.«
    »Wie lange dauert es gewöhnlich, bis diese Quaddeln wieder verschwinden?«
    »Bei einem lebenden Subjekt bilden sie sich normalerweise nach zwei Stunden zurück.«
    »Und bei einem Toten?«
    »Der Tod bringt diese Prozesse in der Haut zum Stillstand. Deshalb können wir die Quaddeln immer noch sehen, wenn auch nur sehr schwach.«
    »Er ist also binnen zwei Stunden nach diesem Elektroschock gestorben?«
    »Korrekt.«
    »Aber ein Taser setzt einen doch nur für ein paar Minuten außer Gefecht«, wandte Korsak ein. »Fünf, höchstens zehn. Um ihn lange genug ruhig zu stellen, hätte man ihn noch einmal schocken müssen.«
    »Und deshalb werden wir jetzt nach weiteren Spuren suchen«, sagte Isles. Sie richtete die Lampe auf den Unterleib des Toten.
    Erbarmungslos fiel der grelle Lichtstrahl auf Richard Yeagers Genitalien. Bisher hatte Rizzoli es vermieden, den Blick auf diesen Teil seiner Anatomie zu richten. Die Geschlechtsorgane einer Leiche anzustarren, war ihr immer schon wie eine grausame Verletzung der Intimsphäre erschienen, als eine weitere Erniedrigung, als Anschlag auf die Würde des Toten. Jetzt war das Licht auf den schlaffen Penis und den Hodensack der Leiche gerichtet – und die Schändung der sterblichen Überreste des Richard Yeager schien komplett.
    »Hier sind noch weitere Quaddeln«, sagte Isles, während sie einen Blutfleck abwischte, damit sie die Haut besser sehen konnten. »Hier, am Unterbauch.«
    »Und am Oberschenkel«, sagte Rizzoli leise.
    Isles hob kurz die Augen. »Wo?«
    Rizzoli deutete auf die verräterischen Male, die sich unmittelbar links vom Hodensack des Opfers befanden. Das sind also Richard Yeagers schreckliche letzte Sekunden, dachte sie. Er ist wach und bei vollem Bewusstsein, aber er kann sich nicht bewegen. Er kann sich nicht verteidigen. Die voll austrainierten Muskeln, die vielen Stunden im Kraftraum – all das nützt ihm jetzt nichts, denn sein Körper gehorcht ihm nicht mehr. Seine Arme und Beine sind unbrauchbar, lahm gelegt durch den Elektroschock, der durch seine Nervenbahnen geschossen ist. Er wird aus seinem Schlafzimmer herausgeschleppt, hilflos wie ein betäubtes Tier auf dem Weg zur Schlachtbank. Als ohnmächtiger Zuschauer sitzt er da, an die Wohnzimmerwand gelehnt.
    Aber die Wirkung des Tasers währt nicht lange. Bald schon beginnen seine Muskeln zu zucken; seine Hände ballen sich zu Fäusten. Er sieht seine Frau entsetzliche Qualen leiden, und die Wut jagt ihm das Adrenalin durch den Körper. Und als er sich jetzt zu bewegen versucht, gehorchen seine Muskeln ihm wieder. Er will aufstehen, aber das Klirren der Teetasse, die von seinem Schoß auf den Boden fällt, verrät ihn.
    Ein weiterer Schuss aus dem Taser, und er bricht zusammen, von Verzweiflung übermannt wie Sisyphus, dem der Stein den Berg hinunterrollt.
    Sie blickte in Richard Yeagers Gesicht, sah die halb geschlossenen Lider, und sie dachte an die letzten Bilder, die sein Gehirn registriert haben musste. Seine ausgestreckten Beine, die ihm nicht mehr zu Willen waren. Seine Frau, brutal überwältigt auf dem beigefarbenen Teppich. Und das Messer in der Hand des Jägers, der auf sein Opfer zugeht und zum entscheidenden Streich ausholt.
     
    Es ist laut hier im Tagesraum, wo die Männer umherschleichen wie die Tiere im Käfig, die sie auch sind. Der Fernseher plärrt, und die Metallstufen der Treppe, die zu der oberen Zellenflucht führt, scheppern bei jedem Schritt. Wir sind keine Sekunde lang unbeobachtet. Überall sind Überwachungskameras – sogar im Duschraum, sogar im Toilettenbereich. Von den Fenstern des Wachraums aus blicken unsere Wachmänner auf unser Treiben hier unten im Erdgeschoss herab. Sie können jede unserer Bewegungen verfolgen. Die

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