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Der Meister

Der Meister

Titel: Der Meister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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bliebe. Sie musste ja nicht hier sein – es war schließlich der Fall der Kollegen von der Mordkommission Newton und somit nicht ihr Zuständigkeitsbereich.
    Aber Jane Rizzoli war noch nie feige gewesen, und auch jetzt war sie zu stolz, um noch einen Rückzieher zu machen.
    Sie stieg aus, schlug die Tür mit einem heftigen Knall zu und betrat das Gebäude.
    Sie war die Letzte, die sich im Autopsielabor einfand, und die drei anderen begrüßten sie mit einem knappen Nicken, als sie den Raum betrat. Korsak hatte seinen fülligen Leib in einen übergroßen OP-Kittel gehüllt und eine bauschige Papierhaube aufgesetzt. Er sah aus wie eine übergewichtige Hausfrau mit Haarnetz.
    »Was habe ich versäumt?«, fragte sie, während sie sich ebenfalls einen Kittel überzog, um ihre Kleider vor überraschenden Spritzern zu schützen.
    »Nicht viel. Wir haben gerade über das Klebeband gesprochen.«
    Die Obduktion wurde von Dr. Maura Isles durchgeführt. Die »Königin der Toten« – das war der Spitzname, den ihr die Mordkommission verpasst hatte, nachdem sie vor einem Jahr die Stelle am Rechtsmedizinischen Institut von Massachusetts angetreten hatte. Dr. Tierney persönlich hatte sie von ihrer gut dotierten Dozentenstelle an der Medizinischen Fakultät der University of California in San Francisco hierher nach Boston gelockt. Nach kurzer Zeit hatte auch die Presse den Spitznamen »Königin der Toten« aufgegriffen. Bei ihrem ersten Auftritt vor Gericht in Boston war sie ganz in Schwarz erschienen, um für das Rechtsmedizinische Institut in einem Mordprozess auszusagen. Die Fernsehkameras hatten ihre majestätische Gestalt auf Schritt und Tritt verfolgt, als sie die Stufen des Gerichtsgebäudes erklommen hatte – eine auffallend blasse Frau mit grellrotem Lippenstift, schulterlangem, raben-schwarzem Haar mit schlichtem Pony und einer unterkühlten, unnahbaren Ausstrahlung. Im Zeugenstand hatte sie sich durch nichts aus der Fassung bringen lassen. Der Verteidiger hatte alle Register gezogen – er hatte geflirtet und geschmeichelt und, nachdem das alles nicht verfangen hatte, schließlich sein Heil in unverhohlener Einschüchterung gesucht; doch Dr. Isles hatte alle seine Fragen mit unfehlbarer Logik und ihrem unerschütterlichen Mona-Lisa-Lächeln auf den Lippen beantwortet. Die Presse liebte sie, die Strafverteidiger fürchteten sie. Und auf die Cops von der Mordkommission wirkte diese Frau, die ihre Tage freiwillig in trautem Zwiegespräch mit den Toten zubrachte, zugleich unheimlich und faszinierend.
    Dr. Isles leitete die Obduktion mit ihrer gewohnten Sachlichkeit. Auch ihr Assistent Yoshima wirkte ruhig und gelassen, als er die Instrumente bereitlegte und die Lampen ausrichtete. Beide betrachteten Richard Yeager mit dem kühlen Blick von Wissenschaftlern.
    Die Totenstarre hatte sich gelöst, seit Rizzoli Dr. Yeagers Leiche am Vortag gesehen hatte. Erschlafft lag sie nun auf dem Autopsietisch. Das Klebeband war entfernt worden; der Tote war vollständig entkleidet, das Blut weitgehend abgewaschen. Er lag auf dem Rücken, die Arme gerade ausgestreckt. Beide Hände waren geschwollen und bläulich-rot verfärbt, so dass sie dicken Handschuhen glichen – eine Folge der engen Fesselung. Doch im Moment waren die Augen aller Anwesenden auf die Schnittwunde an seinem Hals gerichtet.
    »Die tödliche Verletzung«, sagte Isles. Mit einem Lineal maß sie die Wunde aus. »Vierzehn Zentimeter.«
    »Seltsam – besonders tief sieht sie nicht aus«, meinte Korsak.
    »Das liegt daran, dass der Schnitt entlang der Langerschen Spaltlinien erfolgt ist. Die Eigenspannung der Haut zieht die Wundränder wieder zusammen. Sie ist tiefer, als es den Anschein hat.«
    »Spatel?«, fragte Yoshima.
    »Danke.« Isles nahm das Instrument, das ihr Assistent ihr reichte, und schob das abgerundete Ende des Holzspatels vorsichtig in die Wunde. »Schön ah sagen«, murmelte sie halblaut.
    »Was soll das denn?«, fragte Korsak.
    »Ich messe die Wundtiefe. Knapp fünf Zentimeter.«
    Jetzt zog Isles ein Vergrößerungsglas über die blutig rote Wunde und inspizierte sie. »Sowohl die linke Kopfschlagader als auch die linke Drosselvene wurden durchtrennt. Die Trachea wurde ebenfalls eingeschnitten. Die Höhe, in der die Klinge in die Luftröhre eingedrungen ist, direkt unterhalb des Schildknorpels, deutet darauf hin, dass der Hals gestreckt wurde, bevor der Schnitt geführt wurde.« Sie blickte zu den beiden Detectives auf. »Ihr unbekannter Täter hat den

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