Der Meister
er sich regt, wird der Täter durch das Geräusch des herabfallenden Porzellans gewarnt. Diese Strategien sind deshalb so weit verbreitet, weil sie sich nun mal bewährt haben.«
Frustriert zog Rizzoli die Fotos des Tatorts in Newton aus der Tasche und breitete sie auf Zuckers Schreibtisch aus.
»Wir sind auf der Suche nach einer vermissten Frau, Dr. Zucker. Bislang haben wir noch keine Spur. Ich will gar nicht daran denken, was sie in diesem Moment durchmacht – falls sie überhaupt noch am Leben ist. Also sehen Sie sich diese Fotos bitte sehr gründlich an. Erzählen Sie mir etwas über diesen Täter. Sagen Sie mir, wie wir ihn finden können. Wie wir sie finden können.«
Dr. Zucker setzte seine Brille auf und nahm das erste Foto zur Hand. Er sagte nichts, sondern starrte es nur eine Weile an, um dann nach dem nächsten Bild in der Reihe zu greifen. Die einzigen Geräusche waren das Knarren seines Ledersessels und ein gelegentliches unverständliches Murmeln, das sein Interesse zu verraten schien. Durch das Fenster seines Büros konnte Rizzoli den Campus der Northeastern University sehen, der an diesem Sommertag nahezu menschenleer war. Nur wenige Studentinnen und Studenten lümmelten sich auf dem Rasen, umringt von Rucksäcken und Büchern. Sie beneidete diese jungen Menschen um ihre sorgenfreien Tage, ihre Unschuld. Um ihr blindes Vertrauen in die Zukunft. Und um ihren gesunden Schlaf, den keine düsteren Albträume zerrissen.
»Sie erwähnten, dass Sie Sperma gefunden hätten«, sagte Dr. Zucker.
Widerwillig riss sie sich von dem friedlichen Anblick der sonnenbadenden jungen Menschen los und sah ihn an. »Ja. Auf dem ovalen Teppich, den Sie dort auf dem Foto sehen. Das Labor hat schon bestätigt, dass die Blutgruppe nicht mit der des Ehemanns übereinstimmt. Die DNA wird noch mit der CODIS-Datei abgeglichen.«
»Ich bezweifle irgendwie, dass dieser Täter unvorsichtig genug ist, sich über eine landesweite Datenbank identifizieren zu lassen. Nein, ich könnte wetten, dass seine DNA nicht in CODIS registriert ist.« Zucker sah von dem Foto auf. »Und ich wette auch, dass er keine Fingerabdrücke hinterlassen hat.«
»In der AFIS-Datei haben wir jedenfalls keinen Treffer gelandet. Unser Pech ist, dass die Yeagers kürzlich nach der Trauerfeier für Mrs. Yeagers Mutter mindestens fünfzig Gäste im Haus hatten. Das bedeutet, dass wir es mit einer Menge unidentifizierbarer Abdrücke zu tun haben.«
Zucker betrachtete noch einmal das Foto von Dr. Yeagers Leiche, die zusammengesunken an der blutbespritzten Wohnzimmerwand lehnte. »Dieser Mord hat sich in Newton ereignet.«
»Ja.«
»Normalerweise hätten Sie mit den Ermittlungen nichts zu tun. Warum sind Sie daran beteiligt?« Er blickte wieder auf und fixierte sie mit einer Intensität, die ihr Unbehagen bereitete.
»Ich wurde von Detective Korsak gebeten …«
»Der offiziell mit dem Fall betraut ist. Habe ich Recht?«
»Ja. Aber …«
»Sind Sie mit den Morden in Boston noch nicht ausgelastet, Detective? Warum müssen Sie sich unbedingt mit diesem Fall befassen?«
Als sie seinen Blick erwiderte, hatte sie das Gefühl, dass er sich irgendwie in ihr Gehirn eingeschlichen hatte und darin herumwühlte, auf der Suche nach dem wunden Punkt, mit dem er sie quälen konnte. »Das habe ich Ihnen doch schon gesagt. Die Frau könnte noch am Leben sein.«
»Und Sie wollen sie retten.«
»Sie etwa nicht?«, schleuderte sie ihm entgegen.
»Ich bin einfach nur neugierig, Detective«, sagte Zucker, ohne sich durch ihren Zornesausbruch aus der Fassung bringen zu lassen. »Haben Sie mit irgendwem über den Hoyt-Fall gesprochen? Ich meine, über seine Auswirkungen auf Sie persönlich?«
»Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen.«
»Sind Sie therapeutisch betreut worden?«
»Sie wollen wissen, ob ich bei einem Psychiater war?«
»Es muss ziemlich furchtbar gewesen sein, was Sie dort in diesem Keller erlebt haben. Was Warren Hoyt Ihnen angetan hat, würde kein Polizist so schnell vergessen. Er hat Narben hinterlassen, emotionale ebenso wie körperliche. Die meisten Menschen wären nach einem solchen Erlebnis traumatisiert. Sie hätten Flashbacks und Albträume. Depressionen.«
»Es gibt schönere Erinnerungen. Aber ich komme damit klar.«
»Das war schon immer Ihre Art, nicht wahr? Augen zu und durch. Nur nicht klagen.«
»Ich meckere genauso viel rum wie alle anderen.«
»Aber nie über irgendetwas, was Sie schwach erscheinen lassen könnte. Oder
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