Der Meister
Ich stehe vor dem Bildschirm, berühre ihr Gesicht, und ich denke daran, wie ihre kohlschwarzen Augen einst unterwürfig zu mir aufgeblickt haben. Ich erinnere mich an ihre glatte Haut. Makellose Haut, ohne jede Spur von Make-up.
» Weg da, du Arschloch! «
Plötzlich ist sie weg, vom Bildschirm verschwunden. Statt ihrer erscheint wieder die Nachrichtensprecherin in ihrem jadegrünen Kostüm. Noch vor wenigen Sekunden war ich bereit, mich in meinen Fantasien mit diesem sorgsam geschminkten und frisierten Model zufrieden zu geben. Wie nichts sagend sie mir jetzt vorkommt – nur ein hübsches Gesicht unter vielen, ein schlanker Hals. Dieser kurze Anblick von Jane Rizzoli hat genügt, um mich daran zu erinnern, was eine wirklich begehrenswerte Beute ist.
Ich gehe zum Sofa zurück und lasse einen Werbespot für Lexus-Limousinen über mich ergehen. Aber ich achte nicht mehr auf den Fernseher. Stattdessen denke ich daran zurück, wie es war, in Freiheit zu sein. Durch die Straßen der Stadt schlendern zu können und die Düfte der Frauen einzuatmen, die an mir vorbeigehen. Nicht die aufdringlichen, in Flaschen abgefüllten Parfüms aus den Labors der Chemiker, sondern den echten Duft von Frauenschweiß, das Aroma sonnengewärmter Haare. An Sommertagen habe ich mich gerne zu den Fußgängern gesellt, die an einer roten Ampel warteten. Welche Frau würde an einer so belebten Straßenecke schon bemerken, dass der Mann hinter ihr sich ein wenig zu nahe an sie herangeschlichen hat und an ihren Haaren schnuppert? Welche Frau würde merken, dass der Mann neben ihr auf ihren Hals starrt, auf die Stellen, wo der Puls schlägt, wo ihre Haut, wie er wohl weiß, am süßesten duftet?
Sie merken es nicht. Die Fußgängerampel springt auf Grün. Die Menge setzt sich in Bewegung. Und die Frau geht weiter, ohne zu wissen, ohne auch nur zu ahnen, dass der Jäger ihre Witterung aufgenommen hat.
»Das Zusammenfalten des Nachthemds allein bedeutet noch nicht, dass Sie es mit einem Nachahmungstäter zu tun haben«, sagte Dr. Lawrence Zucker. »Dabei handelt es sich nur um eine Demonstration der Macht. Der Mörder stellt damit seine Überlegenheit über seine Opfer zur Schau. Er zeigt, dass er Herr der Lage ist.«
»So wie Warren Hoyt es getan hat.«
»Andere Mörder haben es genauso gemacht. Der Chirurg war nicht der Einzige.«
Dr. Zucker musterte sie mit einem seltsamen, beinahe bedrohlich wirkenden Glitzern im Augenwinkel. Er war Kriminalpsychologe an der Northeastern University und wurde vom Boston Police Department häufig als Experte herangezogen. Vor einem Jahr hatte er bei der Jagd nach dem Chirurgen mit der Mordkommission zusammengearbeitet, und das von ihm erstellte Täterprofil hatte sich im Nachhinein als geradezu unheimlich zutreffend erwiesen. Manchmal fragte Rizzoli sich, wie normal er selbst sein konnte. Nur ein Mann, der mit der Welt des Bösen eingehend vertraut war, konnte so tief in die Gedankenwelt eines Warren Hoyt vorgedrungen sein. Sie hatte sich in Gegenwart dieses Mannes nie so recht wohlgefühlt, mit seiner verschlagenen Flüsterstimme und seinen bohrenden Augen, die in ihr stets ein Gefühl der Beklemmung, der Wehrlosigkeit auslösten. Aber er war einer der wenigen Menschen, die Hoyt wirklich verstanden hatten; vielleicht würde er auch verstehen, was in einem Nachahmungstäter vorging.
»Es ist nicht nur das gefaltete Nachthemd«, sagte sie. »Es gibt noch andere Parallelen. Auch bei diesem Opfer wurde Klebeband zum Fesseln benutzt.«
»Auch das ist nicht so außergewöhnlich. Haben Sie mal die Fernsehserie MacGyver gesehen? Da werden dem Zuschauer unzählige Verwendungsmöglichkeiten für Klebeband demonstriert.«
»Dann das nächtliche Eindringen durch ein Fenster. Das Überraschen der Opfer im Schlaf … wenn sie am wehrlosesten sind. Der logische Zeitpunkt für einen Überfall.«
»Und das Aufschlitzen der Kehle mit einem einzigen Schnitt.«
Der Psychologe zuckte mit den Achseln. »Eine lautlose und effektive Tötungsmethode.«
»Aber nehmen Sie doch einmal all das zusammen. Das gefaltete Nachthemd. Das Klebeband. Die Art, wie sich der Täter Zugang zum Haus verschafft. Den tödlichen Schnitt. Und Sie haben einen unbekannten Täter, der zu ziemlich gewöhnlichen Methoden greift. Selbst die Teetasse auf dem Schoß des Opfers ist nur eine Variante dessen, was viele Serienvergewaltiger bereits praktiziert haben. Sie platzieren einen Teller oder etwas Ähnliches auf dem schlafenden Ehemann. Sobald
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