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Der Meister

Der Meister

Titel: Der Meister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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Strafvollzugsanstalt Souza-Baranowski ist eine Einrichtung der Sicherheitsstufe 6, die Neueste ihrer Art in Massachusetts, und sie ist ein Wunder der Technik. Die Schlösser funktionieren ohne Schlüssel; sie werden von Computerterminals im Wachturm aus gesteuert. Unsere Anweisungen bekommen wir von Geisterstimmen aus dem Lautsprecher. Die Türen sämtlicher Zellen in diesem Block können per Fernsteuerung auf- und zugeschlossen werden, ohne dass je ein menschliches Wesen hier erscheinen muss. Es gibt Tage, da frage ich mich, ob unsere Wachmänner überhaupt aus Fleisch und Blut sind, oder ob die Silhouetten, die wir dort hinter der Scheibe stehen sehen, nicht Roboter sind, mit drehbaren Oberkörpern und Köpfen, die nicken können. Mensch oder Maschine – ganz gleich, ich werde jedenfalls permanent beobachtet, aber es kümmert mich nicht, denn meine Gedanken können sie nicht sehen; die dunkle Landschaft meiner Fantasien bleibt ihnen verschlossen. Sie gehört mir ganz allein.
    Und auch jetzt, als ich hier im Tagesraum sitze und die Sechs-Uhr-Nachrichten im Fernsehen verfolge, streife ich in dieser Landschaft umher. Und die Nachrichtensprecherin, die mir von der Mattscheibe aus zulächelt, ist meine Begleiterin auf dieser Reise. Ich sehe vor meinem inneren Auge ihr schwarzes Haar, wie es sich üppig über das Kopfkissen ergießt. Ich sehe den Schweiß auf ihrer Haut glitzern. Und in meiner Welt lächelt sie nicht – o nein; ihre Augen sind weit aufgerissen, die geweiteten Pupillen wie tiefe Seen, der Mund vor Entsetzen verzerrt. All dies male ich mir aus, während ich die hübsche Sprecherin in ihrem jadegrünen Kostüm betrachte. Ich sehe ihr Lächeln, ich höre ihre angenehme, klangvolle Stimme – und ich frage mich, wie ihre Schreie wohl klingen würden.
    Dann taucht ein neues Bild auf dem Schirm auf, und jeder Gedanke an die Nachrichtensprecherin ist vergessen. Ein Reporter steht vor dem Haus von Dr. Richard Yeager in Newton. Mit ernster Stimme berichtet er, dass zwei Tage nach dem Mord an dem Arzt und der Entführung seiner Frau noch immer keine Verhaftungen erfolgt sind. Ich habe schon von dem Fall gehört. Jetzt beuge ich mich vor, starre gebannt auf den Bildschirm, in der Hoffnung, einen kurzen Blick zu erhaschen.
    Endlich sehe ich sie.
    Die Kamera ist jetzt auf den Hauseingang gerichtet und zeigt sie in Nahaufnahme, als sie in der Tür erscheint. Gleich hinter ihr tritt ein korpulenter Mann aus dem Haus. Sie bleiben auf dem Gartenpfad stehen; sie wissen nicht, dass der Kameramann sie herangezoomt hat. Der Mann sieht grobschlächtig, verfressen und primitiv aus, mit seinen fetten Hängebacken und seinen paar dünnen Haarsträhnen, die er sich über den kahlen Schädel gekämmt hat. Neben ihm wirkt sie klein und unscheinbar. Es ist lange her, dass ich sie zuletzt gesehen habe, und sie hat sich offensichtlich sehr verändert. Gewiss, ihr Haar ist immer noch diese widerspenstige Mähne aus schwarzen Locken, und sie trägt wieder einmal einen ihrer marineblauen Hosenanzüge, mit dem Blazer, der ihr an den Schultern zu weit ist, dem Schnitt, der ihrer zierlichen Figur so wenig schmeichelt. Aber ihr Gesicht ist anders, als ich es in Erinnerung habe. Früher einmal strahlte es grimmige Entschlossenheit und Selbstsicherheit aus – nicht besonders schön, aber gleichwohl faszinierend, besonders wegen der glutvollen und klugen Augen. Jetzt sieht sie abgehärmt und gehetzt aus. Sie hat abgenommen. Ich sehe Schatten in ihrem Gesicht, in ihren eingefallenen Wangen, die vorher nicht da waren.
    Plötzlich entdeckt sie die Fernsehkamera, und sie starrt hinein, blickt mir direkt in die Augen, als ob sie mich sehen könnte, so wie auch ich sie sehe, als stünde sie leibhaftig vor mir. Wir haben eine gemeinsame Geschichte, sie und ich; wir teilen die Erinnerung an ein Erlebnis, das so intim ist, dass es uns für immer aneinander bindet wie zwei Liebende.
    Ich stehe vom Sofa auf und gehe zum Fernseher. Ich lege die Hand auf den Bildschirm. Die Stimme des Reporters höre ich nicht, ich sehe nur ihr Gesicht. Meine kleine Janie. Machen deine Hände dir immer noch Kummer! Reibst du dir immer noch die Handflächen, so wie du es im Gerichtssaal getan hast, als ob dich ein Splitter im Fleisch plagte! Sind die Narben für dich, was sie für mich sind – Liebespfänder! Kleine Zeichen der Hochachtung, die ich für dich empfinde!
    » He, geh von der Glotze weg, du Arsch! Wir können nichts sehen! «
    Ich rühre mich nicht vom Fleck.

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