Der Meister
auszukosten? Oder war es nur der nüchterne Abschluss der vorangegangenen Ereignisse gewesen? Hatte er irgendetwas empfunden, als er Richard Yeager an den Haaren gepackt und ihm die Klinge an den Hals gesetzt hatte?
Das Licht im Zimmer erlosch wieder. Sie hörte das wiederholte Klacken des Verschlusses, als Mick den dunklen Fleck vor dem Hintergrund der fluoreszierenden Teppichfasern mit der Kamera einfing.
Und nachdem du dich dieser Aufgabe entledigt hast, wenn Dr. Yeager mit gesenktem Kopf dasitzt und das Blut hinter ihm von der Wand trieft, vollführst du noch ein Ritual, das du der Trickkiste eines anderen Killers entnommen hast. Du faltest Mrs. Yeagers blutbespritztes Nachthemd zusammen und legst es gut sichtbar im Schlafzimmer auf den Stuhl – genau wie Warren Hoyt es immer gemacht hat.
Aber du bist noch nicht fertig. Das war erst der erste Akt. Es warten noch weitere Freuden – grausige Freuden – auf dich.
Und dazu nimmst du die Frau mit.
Das Licht ging wieder an, und der grelle Schein traf ihre Augen wie ein Stich. Sie fühlte sich benommen, zitterte am ganzen Leib, gepackt von einem Entsetzen, das sie seit Monaten nicht mehr empfunden hatte. Und von Scham, weil diese beiden Männer ihren Zustand zweifellos an ihrem weißen Gesicht und ihren zitternden Händen ablesen konnten. Plötzlich stockte ihr der Atem.
Sie stürzte aus dem Zimmer und lief hinaus in den Garten. Dort blieb sie keuchend und nach Luft ringend stehen. Hinter sich hörte sie Schritte, aber sie drehte sich nicht um. Erst als er sie ansprach, wusste sie, dass es Korsak war.
»Alles in Ordnung, Rizzoli?«
»Mir fehlt nichts.«
»So sah es aber gar nicht aus.«
»Mir war nur auf einmal ein bisschen schwindlig.«
»Sie haben sich plötzlich zu der Hoyt-Ermittlung zurückversetzt gefühlt, nicht wahr? Es musste Sie ja mitnehmen, das hier zu sehen.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
Er war einen Moment still. Dann stieß er mit verächtlichem Schnauben hervor: »Ja, Sie haben Recht. Woher zum Teufel soll ich das wissen?« Er begann zum Haus zurückzugehen.
Sie drehte sich um und rief ihm nach: »Korsak?«
»Was?«
Sie sahen einander ein paar Sekunden lang in die Augen. Die Nachtluft war angenehm, das Gras duftete kühl und frisch. Aber das Entsetzen wühlte in ihren Eingeweiden.
»Ich weiß, was sie fühlt«, sagte sie leise. »Ich weiß, was sie jetzt durchmacht.«
»Mrs. Yeager?«
»Sie müssen sie finden. Sie müssen alle Hebel in Bewegung setzen.«
»Ihr Foto wird in sämtlichen Nachrichten gezeigt. Wir gehen jedem telefonischen Hinweis nach, jedem Augenzeugenbericht.« Korsak schüttelte den Kopf und seufzte. »Aber wissen Sie, ich frage mich inzwischen, ob er sie wirklich am Leben gelassen hat.«
»Das hat er. Ich weiß es genau.«
»Wie können Sie so sicher sein?«
Sie schlang die Arme um den Leib, um das Zittern zu unterdrücken, und blickte an ihm vorbei auf das Haus. »Weil Warren Hoyt es so gemacht hätte.«
3
Von allen ihren Pflichten als Ermittlerin in der Bostoner Mordkommission waren es die Besuche in jenem unauffälligen Backsteinbau in der Albany Street, die Rizzoli am meisten verabscheute. Obwohl sie nach ihrer eigenen Einschätzung auch nicht empfindlicher war als ihre männlichen Kollegen, konnte gerade sie es sich nicht leisten, ihre Verletzbarkeit offen zu zeigen. Die Männer waren zu gut im Aufspüren von Schwächen, und sie würden diese wunden Punkte unweigerlich zur Zielscheibe ihrer Sticheleien und dummen Streiche machen. Sie hatte gelernt, nach außen eine unerschütterliche Miene zur Schau zu tragen und auch vor dem Schlimmsten, was der Autopsietisch zu bieten hatte, nicht zurückzuschrecken. Niemand ahnte, wie viel Willenskraft es sie kostete, äußerlich so gelassen in diesem Gebäude ein und aus zu gehen. Sie wusste, dass sie in den Augen der Männer die furchtlose Jane Rizzoli war, die Eiserne Lady des Departments. Aber jetzt, als sie auf dem Parkplatz hinter dem Rechtsmedizinischen Institut in ihrem Wagen saß, fühlte sie sich alles andere als furchtlos oder eisern.
Letzte Nacht hatte sie schlecht geschlafen. Zum ersten Mal seit Wochen hatte Warren Hoyt sich wieder in ihre Träume eingeschlichen. Sie war schweißgebadet aufgewacht, und die alten Wunden an ihren Händen hatten geschmerzt.
Sie blickte auf ihre vernarbten Handteller herab und hatte plötzlich nur noch den Wunsch, den Motor anzulassen und davonzufahren – alles zu tun, nur damit ihr die Tortur dieses Besuchs erspart
Weitere Kostenlose Bücher