Der Meister
Um den Hals zog sich ein Band von kreisförmigen Blutergüssen. Das lange blonde Haar glich einer verfilzten Strohmatte. Der Unterleib war aufgetrieben, die Bauchdecke grünlich angelaufen. Durch die zersetzende Aktivität von Bakterien waren die Adern durch die Haut verblüffend deutlich zu erkennen; wie ein Netz von Flüssen überzogen sie den Leib. Aber alle diese Schrecken verblassten gegenüber der Prozedur, die Dr. Isles nun vornahm. Die Membranen, die das Auge umhüllen, sind die empfindlichsten Oberflächen am ganzen Körper; eine einzige Wimper oder ein winziges Sandkörnchen können uns extremes Unbehagen bereiten, wenn sie sich unter einem Augenlid festsetzen. Kein Wunder also, dass Rizzoli und Korsak entsetzt zusammenzuckten, als sie sahen, wie die Gerichtsmedizinerin mit einer 20er Nadel in den Augapfel der Toten stach. Langsam zog sie die Glaskörperflüssigkeit in ein Zehn-Kubikzentimeter-Röhrchen.
»Sieht schön klar aus«, stellte Isles befriedigt fest. Sie legte den Behälter in eine Kühlbox, dann richtete sie sich auf und blickte mit souveräner Miene auf die Fundstelle herab. »Die Lebertemperatur liegt nur zwei Grad unter der Umgebungstemperatur«, sagte sie. »Und es sind weder Insektenbefall noch Tierfraß zu beobachten. Sie liegt noch nicht sehr lange hier.«
»Sie ist nicht hier getötet worden?«, fragte Sleeper.
»Die Totenflecke deuten darauf hin, dass sie auf dem Rücken lag, als sie starb. Sehen Sie die dunkleren Stellen am Rücken, wo das Blut sich gesammelt hat? Aber gefunden wurde sie mit dem Gesicht nach unten.«
»Sie wurde also hierher gebracht.«
»Vor weniger als vierundzwanzig Stunden.«
»Sieht aus, als wäre sie schon um einiges länger tot«, bemerkte Crowe.
»Ja. Die Glieder sind erschlafft, und die Leiche ist stark aufgetrieben. Die Haut beginnt sich schon abzulösen.«
»Ist das etwa Nasenbluten?«, fragte Korsak.
»Zersetztes Blut. Durch die Gase, die im Innern der Leiche entstehen, werden Körperflüssigkeiten durch die Nasenlöcher und andere Öffnungen ausgetrieben.«
»Todeszeitpunkt?«, fragte Rizzoli.
Isles zögerte einen Moment, während sie die grotesk angeschwollenen Überreste der Frau betrachtete, von der sie alle glaubten, dass es sich um Gail Yeager handelte. Nur das gierige Summen der Fliegen durchbrach die Stille. Bis auf die langen blonden Haare erinnerte kaum etwas an dieser Leiche an die Frau auf den Fotos – eine Frau, die gewiss mit einem einzigen Lächeln jedem Mann den Kopf verdrehen konnte. Es war eine verstörende Mahnung an die unumstößliche Wahrheit, dass die Schönen wie die Hässlichen letztlich dazu bestimmt sind, von Bakterien und Insekten in einen scheußlichen Haufen modernden Fleisches verwandelt zu werden.
»Ich kann diese Frage nicht beantworten«, sagte Isles. »Noch nicht.«
»Länger als einen Tag?«, hakte Rizzoli nach.
»Ja.«
»Sie wurde in der Nacht von Sonntag auf Montag entführt. Ist es möglich, dass sie schon so lange tot ist?«
»Vier Tage? Das hängt von der Umgebungstemperatur ab. Das Fehlen von Insektenbefall lässt mich vermuten, dass die Leiche bis vor kurzem in einem geschlossenen Raum aufbewahrt wurde. Geschützt vor Umwelteinflüssen. Ein klimatisierter Raum würde den Verwesungsprozess verlangsamen.«
Rizzoli und Korsak tauschten viel sagende Blicke aus. Sie stellten sich beide dieselbe Frage: Warum sollte der Täter sich mit der Entsorgung einer verwesenden Leiche so lange Zeit lassen?
Plötzlich knackte es in Detective Sleepers Walkie-Talkie. Dann ertönte Douds Stimme: »Detective Frost ist gerade angekommen. Und die Spurensicherung ist auch schon da. Sind Sie so weit fertig?«
»Bleiben Sie auf Empfang«, sagte Sleeper. Er sah jetzt schon erschöpft aus, ausgelaugt durch die Hitze. Er war der älteste Detective in der Einheit – nur noch fünf Jahre von der Pensionierung entfernt –, und er hatte es nicht nötig, irgendetwas zu beweisen. Er sah Rizzoli an. »Wir stoßen ja erst jetzt zu diesem Fall dazu. Sie haben doch mit den Kollegen von Newton daran gearbeitet?«
Sie nickte. »Seit Montag.«
»Also werden Sie die Ermittlungen leiten?«
»Richtig«, antwortete Rizzoli.
»Moment mal«, protestierte Crowe. »Wir waren als Erste am Tatort!«
»Die Entführung hat in Newton stattgefunden.«
»Aber die Leiche ist jetzt in Boston«, gab Crowe zurück.
»Mein Gott«, sagte Sleeper, »müssen wir uns denn streiten wie die kleinen Kinder?«
»Es ist mein Fall«, sagte Rizzoli. »Ich
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