Der Meister
endlich loslassen. Ich muss aufhören, in allem, was mir vor die Augen kommt, seine Handschrift zu sehen.«
»Wissen Sie, manchmal ist es wirklich das Beste, sich auf sein Bauchgefühl zu verlassen.«
»Manchmal ist es aber auch nicht mehr als das – ein Gefühl, keine Tatsache. Was ist denn schon so außergewöhnlich an den Instinkten eines Cops? Was ist überhaupt Instinkt? Wie oft erweist sich eine Ahnung als vollkommen falsch?«
Sie ließ den Motor an. »Zu oft, wenn Sie mich fragen.«
»Sie sind also nicht sauer auf mich?«
Sie schlug die Tür zu. »Nein.«
»Sicher nicht?«
Sie musterte ihn durch das offene Fenster. Er stand da und blinzelte in die Sonne, die Augen unter den buschigen Brauen zu Schlitzen verengt. Seine Arme mit dem dichten Pelz aus dunklen Haaren und seine Haltung – das vorgeschobene Becken, die hängenden Schultern – ließen sie an einen Gorilla denken. Nein, sie war nicht sauer auf ihn. Aber sie konnte ihn nicht anschauen, ohne einen leichten Ekel zu empfinden.
»Ich kann einfach nicht noch mehr Zeit in diese Sache investieren«, sagte sie. »Das werden Sie sicher verstehen.«
Wieder in ihrem Büro, nahm Rizzoli sich den Papierberg vor, der sich inzwischen auf ihrem Schreibtisch angesammelt hatte. Obenauf lag die Akte des blinden Passagiers, dessen Identität immer noch unbekannt war und dessen verstümmelte Leiche unbeachtet in einem Kühlfach in der Gerichtsmedizin lag. Sie hatte diesen Fall schon zu lange vernachlässigt. Aber während sie die Akte aufschlug, um noch einen Blick auf Obduktionsfotos zu werfen, schweiften ihre Gedanken wieder zu den Yeagers ab – und zu einem Mann, an dessen Kleidung Leichenhaare hingen. Sie ging die Abflugs- und Ankunftszeiten der Jets am Flughafen Logan International durch, doch es war Gail Yeagers Gesicht, das sie die ganze Zeit vor sich sah, das lächelnde Gesicht auf dem Foto im Schlafzimmer. Sie erinnerte sich an die Galerie von Frauenporträts, die vor einem Jahr an der Wand des Besprechungsraums gehangen hatte, während der Jagd nach dem Chirurgen. Diese Frauen hatten ebenfalls gelächelt; die Kamera hatte ihre Gesichter eingefangen, als sie noch warm und lebendig gewesen waren, als ihre Augen noch gestrahlt hatten. Sie konnte nicht an Gail Yeager denken, ohne dass die Erinnerung an diese Vorgängerinnen in ihr aufstieg.
Sie fragte sich, ob Gail nicht schon eine von ihnen war.
Ihr Piepser begann zu vibrieren. Das Summen an ihrem Gürtel ließ sie zusammenzucken wie ein Stromschlag. Es kündigte eine Entdeckung an, die ihr den Tag endgültig ruinieren würde.
Sie griff nach dem Telefon.
Eine Minute später stürmte sie schon zur Tür hinaus.
5
Der Hund, ein gelber Labrador, war vollkommen aus dem Häuschen. Er bellte die Polizisten an, die in der Nähe herumstanden, und riss wie wild an seiner Leine, deren Ende an einen Baumstamm gebunden war. Sein Besitzer, ein drahtiger Mann in mittleren Jahren mit Joggingshorts und T-Shirt, hockte in der Nähe auf einem großen Stein. Er hatte den Kopf in die Hände gestützt und ignorierte das flehentliche Japsen seines Hundes.
»Der Besitzer des Hundes heißt Paul Vandersloot. Adresse: River Street, nur eine Meile von hier«, meldete Streifenpolizist Gregory Doud, der den Fundort gesichert und bereits mit Polizeiband, das er an Bäumen befestigt hatte, ein halbkreisförmiges Areal abgesperrt hatte.
Sie standen am Rand des städtischen Golfplatzes und blickten hinüber zu den Wäldern des Stony-Brook-Naturreservats, das direkt an den Platz grenzte. Dieses Naherholungsgebiet am südlichen Stadtrand von Boston lag wie eine Insel in einem Meer von Wohngebieten. Aber trotz der Nähe der Zivilisation beherbergten die knapp zweihundert Hektar von Stony Brook eine zerklüftete Landschaft mit bewaldeten Hügeln und Tälern, Felsgruppen und von Rohrkolben gesäumten Sümpfen. Im Winter fuhren Langläufer die fünfzehn Kilometer Loipen des Naturparks ab, im Sommer fanden Jogger Ruhe und Entspannung in seinen stillen Wäldchen.
Die hatte Mr. Vandersloot auch genossen – so lange, bis der Hund ihn zu seinem Fund zwischen den Bäumen geführt hatte.
»Er sagt, er kommt jeden Nachmittag hierher, um seinen Hund laufen zu lassen«, sagte Officer Doud. »Gewöhnlich joggt er zuerst den östlichen Rundweg hoch durch den Wald und kommt hier am Golfplatz entlang zurück. Das ist eine Strecke von etwa sechs Kilometern. Er sagt, er hat den Hund immer an der Leine. Aber heute ist er ihm ausgebüxt. Sie
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