Der Meister
konnte.«
»Und zwar ziemlich teure Behandlungen«, fügte Pepe hinzu.
Rizzoli dachte an Gail Yeager und ihre makellosen, geraden Zähne. Lange nachdem das Herz zu schlagen aufgehört hatte, lange nachdem das Fleisch verwest war, unterschieden sich die Reichen von den Armen immer noch durch den Zustand ihrer Zähne. Wer schon Mühe hatte, jeden Monat die Miete zu bezahlen, vernachlässigte notgedrungen den schmerzenden Backenzahn oder den unansehnlichen Überbiss. Die Eigenschaften dieses Opfers klangen allmählich auf unheimliche Weise vertraut.
Jung, weiblich, weiß. Wohlhabend.
Pepe legte den Unterkiefer wieder an seinen Platz und wandte seine Aufmerksamkeit dem Rumpf zu. Eine Zeit lang betrachtete er eingehend den eingefallenen Brustkasten und das Brustbein. Dann nahm er eine lose Rippe, hielt sie an das Brustbein und schien den Winkel zwischen den beiden Knochen zu prüfen.
» Pectus excavatum « , sagte er.
Zum ersten Mal schien Isles wirklich betroffen. »Das hatte ich nicht bemerkt.«
»Was ist mit den Schienbeinen?«
Sofort ging sie zum Fußende des Tisches und griff nach einem der langen Beinknochen. Sie starrte ihn an, und die Falten auf ihrer Stirn wurden tiefer. Anschließend nahm sie den entsprechenden Knochen des anderen Beins und legte die beiden Seite an Seite.
»Beidseitiges Genu varum « , sagte sie. Inzwischen klang sie schon sehr beunruhigt. »Vielleicht fünfzehn Grad. Ich weiß nicht, wie ich das übersehen konnte.«
»Sie haben sich auf die Fraktur konzentriert. Dieser Nagel springt einen ja geradezu an. Und es ist schließlich ein Leiden, dem man nicht mehr allzu häufig begegnet. Um das zu erkennen, braucht es schon einen alten Knacker wie mich.«
»Das ist keine Entschuldigung. Ich hätte es sofort bemerken müssen.« Isles schwieg eine Weile, während sie irritiert zwischen den Beinknochen und dem Brustkorb hin- und herblickte. »Das ergibt keinen Sinn. Es passt nicht zum Zustand des Gebisses. Es ist fast so, als hätten wir es mit zwei verschiedenen Individuen zu tun.«
Jetzt konnte Korsak nicht mehr an sich halten. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, uns zu erklären, wovon Sie reden? Was ergibt keinen Sinn?«
»Diese Person weist eine Besonderheit auf, die als Genu varum bezeichnet wird«, sagte Dr. Pepe. »Gemeinhin bekannt als O-Beine. Ihre Schienbeine waren um etwa fünfzehn Grad nach außen gekrümmt. Das ist fast das Doppelte der normalen Krümmung der Tibia.«
»Und warum dann die ganze Aufregung? Viele Leute haben O-Beine.«
»Es sind nicht nur die O-Beine«, sagte Isles. »Es ist auch die Brust. Sehen Sie sich den Winkel an, in dem die Rippen zum Brustbein stehen. Sie hat Pectus excavatum, eine so genannte Trichterbrust. Durch eine Verformung der Knochen und Knorpel ist das Brustbein eingedellt. In schweren Fällen kann das zu Kurzatmigkeit und Herzproblemen führen. Aber bei dieser Frau war die Verformung nur leicht ausgeprägt und hat ihr wahrscheinlich keine Beschwerden bereitet. Es dürfte lediglich ein Schönheitsfehler gewesen sein.«
»Und das Ganze geht auf fehlerhafte Knochenbildung zurück?«, fragte Rizzoli.
»Ja. Eine Störung des Knochenstoffwechsels.«
»Von welcher Krankheit reden wir denn hier?«
Isles zögerte und sah Dr. Pepe an. »Ihre Statur ist in der Tat ziemlich klein.«
»Was sagt die Regressionsgleichung nach Trotter und Gleser?«
Isles nahm ein Maßband und hielt es rasch an die Oberschenkel- und Schienbeinknochen. »Ich würde sagen, etwa ein Meter fünfundfünfzig. Plus/minus drei.«
»Also, wir haben Pectus excavatum. Beidseitiges Genu varum. Geringe Körpergröße.« Er nickte. »Die Vermutung liegt sehr nahe.«
Isles wandte sich wieder an Rizzoli. »Sie hatte als Kind Rachitis.«
Das Wort hatte einen fast altmodischen Klang – Rachitis.
Bei Rizzoli löste es Bilder von barfüßigen Kindern in baufälligen Hütten aus, von schreienden Babys und ärmlichen, unhygienischen Verhältnissen. Eine vergangene Zeit, wie auf vergilbten Fotos. Rachitis war ein Wort, das nicht zu einer Frau mit drei Goldkronen und kieferorthopädisch begradigtem Gebiss passte.
Gabriel Dean war der Widerspruch ebenfalls aufgefallen.
»Ich dachte immer, Rachitis sei eine Folge von Mangelernährung.«
»Ja«, antwortete Isles. »Ein Mangel an Vitamin D. Die meisten Kinder sind durch Milch oder das Sonnenlicht ausreichend mit Vitamin D versorgt. Aber wenn ein Kind schlecht ernährt ist und sich viel in geschlossenen Räumen aufhält, kann es zu
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