Der Meister
Mangelerscheinungen kommen. Und diese wiederum beeinträchtigen den Kalziumstoffwechsel und die Knochenbildung.« Sie hielt kurz inne. »Ich selbst habe nie einen Fall beobachtet.«
»Kommen Sie mal mit mir ins Gelände zu einer Ausgrabung«, sagte Dr. Pepe. »Ich kann Ihnen jede Menge Fälle aus dem letzten Jahrhundert zeigen. Skandinavien, Nordrussland…«
»Aber heute? In den Vereinigten Staaten?«, fragte Dean.
Pepe schüttelte den Kopf. »Sehr ungewöhnlich. Wenn ich mir die Knochendeformationen und ihre geringe Körpergröße anschaue, würde ich sagen, dass diese Person in recht ärmlichen Verhältnissen gelebt hat. Zumindest in ihrer Kindheit und Jugend.«
»Aber das steht im Widerspruch zum Zustand ihres Gebisses.«
»Ja. Deshalb hat Dr. Isles auch gesagt, dass wir es hier scheinbar mit zwei verschiedenen Individuen zu tun haben.«
Das Kind und die Erwachsene, dachte Rizzoli. Sie erinnerte sich an ihre eigene Kindheit, an die Zeit, als die Familie auf engstem Raum in einem stickigen kleinen Häuschen gewohnt hatte. Um wirklich ungestört zu sein, hatte Jane sich schon in ihr Geheimversteck unter der Vordertreppe zurückziehen müssen. Sie dachte an die Zeit, als ihr Vater vorübergehend arbeitslos gewesen war, an das ängstliche Geflüster im Elternschlafzimmer, an Dosenmais und Instant-Kartoffelpüree zum Abendessen. Die schlechten Zeiten hatten nicht lange gedauert; binnen eines Jahres hatte ihr Vater einen neuen Job gefunden, und nun kam auch wieder Fleisch auf den Tisch. Aber auch eine flüchtige Begegnung mit der Armut hinterlässt unauslöschliche Spuren, wenn nicht am Körper, so doch in den Köpfen, und die drei Rizzoli-Geschwister hatten sich alle für Berufe mit einem regelmäßigen, wenn auch nicht gerade überwältigenden Einkommen entschieden – Jane bei der Polizei, Frankie bei den Marines und Mikey bei der Post. Der Wunsch, der Unsicherheit ihrer Kindheit zu entkommen, hatte sie alle drei angetrieben.
Sie blickte auf das Skelett auf dem Tisch herab und sagte: »Aus ärmlichen Verhältnissen zu Wohlstand gelangt. So was kommt vor.«
»Wie in einem Roman von Dickens«, meinte Dean.
»Ach ja«, sagte Korsak. »Der kleine Tim, so hieß er doch?«
Dr. Isles nickte. »Der kleine Tim in Dickens’ Weihnachtsgeschichte litt auch an Rachitis.«
»Und wenn er nicht gestorben ist, dann lebt er noch heute in Saus und Braus, weil ihm der alte Scrooge sicher einen Haufen Kohle vermacht hat«, sagte Korsak.
Aber für dich gab es kein Happy End, dachte Rizzoli, als sie die sterblichen Überreste auf dem Tisch betrachtete. Das war nicht mehr nur ein trauriges Häufchen Knochen – nein, was Rizzoli nun sah, war eine Frau, deren Bild, deren Leben in ihrer Vorstellung immer deutlichere Züge anzunehmen begann. Sie sah ein Kind mit krummen Beinen und eingefallener Brust, eine verkümmerte Pflanze im ausgemergelten Boden der Armut. Sie sah dieses Kind zu einem jungen Mädchen heranwachsen, das zerschlissene Blusen mit verschiedenen Knöpfen trug, der Stoff ausgefranst und fast schon durchscheinend. War dieses Mädchen damals schon irgendwie anders, irgendwie besonders gewesen? Hatte es den entschlossenen Blick, das trotzig gereckte Kinn, das aller Welt verkündete: »Ich bin zu einem besseren Leben bestimmt als zu diesem hier, in das ich hineingeboren wurde«?
Denn die Frau, zu der sie herangewachsen war, hatte in einer völlig anderen Welt gelebt – einer Welt, in der man sich mit Geld gerade Zähne und Goldkronen kaufen konnte. Glück oder harte Arbeit, vielleicht auch die Begegnung mit dem richtigen Mann, hatten dafür gesorgt, dass sich ihre Lebensumstände entscheidend verbessert hatten. Aber die Armut ihrer Kinderjahre blieb in ihre Knochen eingeschrieben, in Gestalt verkrümmter Beine und eines eingesunkenen Brustkorbs.
Und das Skelett trug auch die Spuren großer Schmerzen, eines schrecklichen Ereignisses, das dieser Frau das linke Bein und das Rückgrat zerschmettert und ihr zwei künstlich versteifte Wirbel und einen stählernen Nagel im Oberschenkelknochen eingetragen hatte.
»Bei den umfangreichen zahntechnischen Arbeiten und dem sozioökonomischen Status, der sich daraus ableiten lässt, handelt es sich hier wohl um eine Frau, deren Verschwinden nicht unbemerkt bleiben würde«, sagte Dr. Isles.
»Sie ist seit mindestens zwei Monaten tot. Es ist durchaus möglich, dass sie in der NCIC-Datei erfasst ist.«
»Ja, sie und ungefähr hunderttausend andere«, meinte, Korsak.
Das
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