Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Meister

Der Meister

Titel: Der Meister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
Vom Netzwerk:
erinnern zu müssen?«
    Er ging langsam auf sie zu, bis er so dicht vor ihr stand, dass es wie ein Einschüchterungsversuch wirkte. Vielleicht war das ja tatsächlich seine Absicht. Sie standen einander Auge in Auge gegenüber, und wenngleich sie niemals zurückgewichen wäre, konnte sie doch nicht verhindern, dass sie unter seinen Blicken errötete. Es war nicht nur seine körperliche Überlegenheit, die sie als bedrohlich empfand. Es war ihre plötzliche Erkenntnis, dass er ein begehrenswerter Mann war – eine vollkommen abwegige Reaktion angesichts ihrer Verärgerung. Sie versuchte ihre unbotmäßigen Gefühle zu unterdrücken, doch sie hatten sie bereits fest im Griff, und es gelang ihr nicht, sie abzuschütteln.
    »Dieser Fall wird Ihre volle Aufmerksamkeit verlangen«, sagte er. »Hören Sie, ich verstehe ja, dass Sie über Warren Hoyts Flucht erschüttert sind. So etwas würde jedem Cop an die Nieren gehen. Das kann einen schon aus der Bahn werfen …«
    »Sie kennen mich doch kaum. Also versuchen Sie nicht, mich zu analysieren.«
    »Ich frage mich nur, ob Sie sich wirklich voll auf die Leitung dieser Ermittlungen konzentrieren können. Oder ob andere Dinge Sie so sehr beschäftigen, dass sie Ihnen in die Quere kommen könnten.«
    Es gelang ihr, sich zu beherrschen und ihn ganz ruhig zu fragen: »Wissen Sie, wie viele Menschen Hoyt heute Morgen getötet hat? Es waren drei, Agent Dean. Ein Mann und zwei Frauen. Er hat ihnen die Kehle durchgeschnitten und ist einfach so davonspaziert. So wie jedes Mal.« Sie hob die Hände, und er starrte auf ihre Narben. »Das sind die Souvenirs, die er mir letzten Sommer verpasst hat, kurz bevor er auch mir die Kehle aufschlitzen wollte.« Sie ließ die Hände sinken und lachte. »Sie haben also durchaus Recht. Er beschäftigt mich immer noch.«
    »Sie haben aber auch einen Job zu erledigen. Und zwar hier.«
    »Und ich erledige ihn.«
    »Hoyt lenkt Sie ab. Sie lassen zu, dass er Sie an der Arbeit hindert.«
    »Der Einzige, der mich daran hindert, meine Arbeit zu tun, sind Sie. Ich weiß ja noch nicht einmal, was Sie hier überhaupt machen.«
    »Kooperation zwischen den Behörden. Ist das nicht die offizielle Order?«
    »Ich bin die Einzige, die hier kooperiert. Was bekomme ich denn im Gegenzug von Ihnen?«
    »Was erwarten Sie von mir?«
    »Sie könnten mir zum Beispiel mal verraten, wieso das FBI sich überhaupt eingeschaltet hat. Die Behörde hat sich bisher nie für meine Fälle interessiert. Inwiefern sind die Yeagers etwas Besonderes? Welche Informationen besitzen Sie, von denen ich nichts weiß?«
    »Ich weiß genauso viel über die beiden wie Sie«, sagte er.
    War das die Wahrheit? Sie wusste es nicht. Sie wurde nicht klug aus diesem Mann. Und jetzt brachte sie auch noch seine sexuelle Anziehungskraft durcheinander und machte eine klare Kommunikation zwischen ihnen so gut wie unmöglich.
    Er sah auf seine Uhr. »Es ist schon nach drei. Sie warten auf uns.«
    Er ging auf den Eingang zu, doch sie folgte ihm nicht gleich. Einen Moment lang blieb sie noch auf dem Parkplatz stehen, vollkommen verwirrt durch ihre eigene Reaktion auf Dean. Schließlich atmete sie tief durch und steuerte das Gebäude an, gewappnet für einen neuerlichen Besuch bei den Toten.
     
    Diesmal bestand wenigstens keine Gefahr, dass sich ihr der Magen umdrehte. Der überwältigende Verwesungsgestank, von dem ihr während der Obduktion von Gail Yeager schlecht geworden war, fehlte bei dieser zweiten Leiche zum Glück fast gänzlich. Korsak hatte dennoch die üblichen Vorsichtsmaßnahmen ergriffen und sich wieder Mentholsalbe unter die Nase geschmiert. An den Knochen hingen nur noch einige wenige lederartige Bindegewebsfetzen, und wenngleich der Geruch alles andere als angenehm war, zwang er Rizzoli wenigstens nicht, zum Waschbecken zu flüchten. Sie war entschlossen, eine Wiederholung der peinlichen Szene vom Abend zuvor zu vermeiden, zumal Gabriel Dean ihr jetzt direkt gegenüber stand und ihm auch nicht das kleinste Zucken in ihrem Gesicht entgehen würde. Mit stoischer Miene sah sie zu, wie Dr. Isles und der forensische Anthropologe Dr. Carlos Pepe die Transportkiste öffneten und die skelettierten Überreste vorsichtig heraushoben, um sie auf dem mit einem Tuch abgedeckten Autopsietisch auszubreiten.
    Dr. Pepe war um die sechzig, eine koboldhafte Erscheinung, klein und gebeugt, und er wirkte wie ein Kind bei der Bescherung, als er nun ganz aufgeregt in der Kiste herumwühlte und jedes einzelne

Weitere Kostenlose Bücher