Der Meister
Alkohol ihr Gehirn so betäuben, dass es in dieser Nacht keine Albträume hervorbrachte? Oder war sie schon so weit, dass ihr diese Art von Anästhesie nicht mehr helfen konnte?
»Haben Sie Schutz angefordert?«
Seine Frage überraschte sie. »Schutz?«
»Wenigstens einen Streifenwagen, der Ihre Wohnung überwacht.«
»Ich bin Polizistin.«
Er legte den Kopf schief, als wartete er auf den Rest ihrer Antwort.
»Hätten Sie mir diese Frage auch gestellt, wenn ich ein Mann wäre?«, fragte sie.
»Sie sind aber kein Mann.«
»Und das heißt, dass ich automatisch Schutz brauche?«
»Warum klingen Sie so beleidigt?«
»Wieso sollte ich als Frau nicht in der Lage sein, meine eigene Wohnung vor Eindringlingen zu schützen?«
Er seufzte. »Müssen Sie die Männer in allem übertreffen, Detective?«
»Ich habe hart daran gearbeitet, so behandelt zu werden wie alle anderen«, sagte sie. »Ich werde keine Sondervergünstigungen verlangen, nur weil ich eine Frau bin.«
»Aber gerade weil Sie eine Frau sind, befinden Sie sich jetzt in dieser Lage. Die sexuellen Fantasien des Chirurgen drehen sich um Frauen. Und dem Dominator geht es bei seinen Überfällen auch nicht um die Männer, sondern um deren Frauen. Es sind die Frauen, die er vergewaltigt. Sie können mir nicht erzählen, dass in dieser Situation Ihr Geschlecht überhaupt keine Rolle spielt.«
Sie war zusammengefahren, als er von Vergewaltigung gesprochen hatte. Bisher war es bei ihren Gesprächen über Sexualverbrechen immer nur um andere Frauen gegangen. Dass er sie selbst nun als potenzielles Opfer darstellte, brachte die Diskussion auf eine sehr viel intimere Ebene, und über diese Dinge mochte sie mit einem Mann nicht sprechen – schon gar nicht mit Dean. Mehr noch als das Thema Vergewaltigung an sich war es seine Person, die ihr Unbehagen bereitete. Die Art, wie er sie beobachtete – als ob sie ein Geheimnis verberge, das er unbedingt ergründen wollte.
»Es geht nicht darum, dass Sie Polizistin sind, oder um die Frage, ob Sie sich selbst verteidigen können oder nicht«, sagte er. »Sondern darum, dass Sie eine Frau sind. Eine Frau, die wahrscheinlich seit Monaten im Mittelpunkt von Warren Hoyts Fantasien steht.«
»Nicht ich. Cordell ist diejenige, die er begehrt.«
»Cordell ist für ihn unerreichbar. Er kommt nicht an sie heran. Aber Sie sind hier, in seiner Reichweite – die Frau, die er um ein Haar besiegt hätte. Die Frau, die er dort in dem Keller mit seinen Skalpellen an den Boden geheftet hatte. Er hatte die Klinge schon an Ihrem Hals angesetzt. Er konnte Ihr Blut schon riechen.«
»Hören Sie auf, Dean.«
»In gewisser Weise hat er Sie bereits in Besitz genommen. Sie gehören ihm schon jetzt. Und jeden Tag sind Sie ihm ausgeliefert, wenn Sie an der Aufklärung der Morde arbeiten, die er Ihnen hinterlässt. Jede Leiche ist eine Botschaft, die für Ihre Augen bestimmt ist. Ein Vorgeschmack von dem, was er mit Ihnen vorhat.«
»Ich sagte, Sie sollen aufhören. «
»Und Sie glauben, Sie haben keinen Schutz nötig? Sie glauben, eine Waffe und eine trotzige Haltung sind alles, was Sie zum Überleben brauchen? Dann ignorieren Sie Ihre eigene Intuition. Sie wissen doch, was er als Nächstes tun wird. Sie wissen, was er begehrt, was ihn anmacht. Und was ihn anmacht, das sind Sie. Das, was er mit Ihnen vorhat.«
»Halten Sie endlich den Mund!« Ihr Zornesausbruch erschreckte sie beide. Sie starrte ihn an, bestürzt über ihren Kontrollverlust und die Tränen, die wie aus dem Nichts hervorzubrechen begannen. Verdammt, nein, sie würde nicht weinen. Es war noch nie vorgekommen, dass sie vor den Augen eines Mannes heulend zusammengebrochen war, und Dean sollte nicht der Erste sein, der in den Genuss dieses Anblicks kam. Sie holte tief Luft und sagte ganz ruhig: »Ich möchte, dass Sie jetzt gehen.«
»Ich verlange von Ihnen nichts weiter, als dass Sie auf Ihre eigene Eingebung hören. Und dass Sie für sich denselben Schutz in Anspruch nehmen, den Sie jeder anderen Frau auch anbieten würden.«
Sie stand auf und ging zur Tür. »Gute Nacht, Agent Dean.«
Einen Augenblick lang blieb er reglos sitzen, und sie fragte sich schon, zu welchen Mitteln sie würde greifen müssen, um diesen Mann aus ihrer Wohnung zu werfen. Schließlich stand er auf und schickte sich an zu gehen. Doch an der Tür blieb er noch einmal stehen und sah auf sie herab. »Sie sind nicht unbesiegbar, Jane«, sagte er. »Und das erwartet auch niemand von Ihnen.«
Lange
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