Der Meister
nachdem er gegangen war, stand sie noch da, den Rücken an die verriegelte Tür gepresst, die Augen geschlossen, und versuchte den Aufruhr niederzukämpfen, den sein Besuch in ihr ausgelöst hatte. Sie wusste, dass sie nicht unbesiegbar war. Das hatte sie vor einem Jahr auf die bitterste Art und Weise erfahren, als sie zum Gesicht des Chirurgen aufgeblickt und auf den Stich seines Skalpells gewartet hatte. Niemand musste sie daran erinnern, und sie war empört über die brutale Manier, in der Dean sie mit dieser Lektion konfrontiert hatte.
Sie ging zurück zur Sofaecke und griff nach dem Telefon auf dem Beistelltisch. In London war es jetzt wohl noch dunkel, aber sie konnte diesen Anruf einfach nicht aufschieben.
Moore meldete sich nach dem zweiten Klingeln. Er klang etwas schroff, aber trotz der frühen Stunde hellwach.
»Ich bin’s«, sagte Rizzoli. »Tut mir Leid, wenn ich Sie geweckt habe.«
»Augenblick, ich gehe rasch nach nebenan.«
Sie wartete. Am anderen Ende hörte sie das Quietschen von Bettfedern, dann das Geräusch einer Tür, die er hinter sich schloss.
»Was gibt’s denn?«, fragte er.
»Der Chirurg ist wieder auf Beutezug.«
»Hat es schon ein Opfer gegeben?«
»Ich habe vor ein paar Stunden die Autopsie mitverfolgt. Das ist sein Werk.«
»Er hat keine Zeit vergeudet.«
»Es wird immer schlimmer, Moore.«
»Wie kann es denn noch schlimmer werden, als es schon ist?«
»Er hat einen neuen Partner.«
Er schwieg eine Weile. Dann fragte er leise: »Wer ist es?«
»Wir glauben, dass es sich um denselben Täter handelt, der dieses Ehepaar in Newton auf dem Gewissen hat. Irgendwie haben Hoyt und er sich gefunden. Jetzt jagen sie gemeinsam.«
»So schnell? Wie konnten sie sich so prompt zusammentun?«
»Sie kannten sich schon. Anders ist es nicht vorstellbar.«
»Wo sind sie sich begegnet? Und wann?«
»Das müssen wir eben herausfinden. Es könnte der Schlüssel zur Identität des Dominators sein.« Plötzlich musste sie an den Operationssaal denken, aus dem Hoyt geflohen war. Die Handschellen. Es war nicht der Wachmann gewesen, der sie aufgeschlossen hatte. Irgendjemand hatte sich mit der Absicht, Hoyt zu befreien, in den OP geschlichen, vielleicht verkleidet mit einer Sanitäter-Uniform oder einem weißen Arztkittel, den er sich irgendwo ausgeliehen hatte.
»Ich sollte dabei sein«, sagte Moore. »Ich sollte mit Ihnen an diesem Fall arbeiten…«
»Nein. Sie gehören genau dorthin, wo Sie jetzt sind, an Catherines Seite. Ich glaube nicht, dass Hoyt sie aufspüren kann. Aber er wird es versuchen. Er gibt niemals auf, das wissen Sie. Und jetzt sind sie zu zweit, und wir haben keine Ahnung, wie dieser Partner aussieht. Wenn er in London auftaucht, werden Sie ihn nicht erkennen. Sie müssen auf alles vorbereitet sein.«
Als ob es möglich wäre, auf einen Überfall des Chirurgen vorbereitet zu sein, dachte sie, als sie auflegte. Auch Catherine Cordell hatte vor einem Jahr geglaubt, sie sei auf alles vorbereitet. Sie hatte ihr Haus in eine Festung verwandelt und ihre Tage und Nächte in einer Art Belagerungszustand verbracht. Und dennoch hatte Hoyt ihren Schutzwall überwunden; er hatte zugeschlagen, als sie am wenigsten damit gerechnet hatte; an einem Ort, den sie für sicher gehalten hatte.
So wie ich meine Wohnung für sicher halte.
Sie stand auf und ging zum Fenster. Als sie auf die Straße hinunterblickte, fragte sie sich unwillkürlich, ob in diesem Augenblick jemand sie beobachtete, wie sie im hell erleuchteten Rechteck des Fensters stand. Es würde nicht allzu schwer sein, sie zu finden. Der Chirurg musste lediglich im Telefonbuch unter › RIZZOLI, J. ‹nachschlagen.
Unten auf der Straße bremste ein Auto ab und hielt am Bordstein. Ein Streifenwagen. Sie beobachtete ihn eine Weile, doch er fuhr nicht weiter. Die Scheinwerfer erloschen – ein Zeichen dafür, dass der Fahrer sich auf einen längeren Aufenthalt einstellte. Sie selbst hatte keinen Polizeischutz angefordert, aber sie wusste genau, wer es getan hatte.
Gabriel Dean.
Die Geschichte der Menschheit hallt wider von den Schreien gequälter Frauen.
Die Bücher, die man uns zu lesen gibt, gehen kaum auf jene blutrünstigen Details ein, nach denen wir uns verzehren. Stattdessen finden wir trockene Schilderungen von militärischen Strategien und Flügelattacken, von den Kriegslisten der Generäle und dem Zusammenziehen von Truppen. Wir sehen Abbildungen von Männern in voller Rüstung mit gekreuzten Schwertern, von
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