Der Meister
dafür. Er kann ihn an den subtilsten Anzeichen erkennen. Am Klang ihrer Stimme. An der Art, wie sie den Kopf hält oder einem Blickkontakt ausweicht. An all den winzigen Signalen der Körpersprache, die den meisten von uns entgehen. Er aber nimmt sie wahr. Er weiß, welche Frauen unsichtbare Verletzungen mit sich herumtragen, und sie sind es, auf die er es abgesehen hat.«
»Ich bin kein Opfer.«
»Jetzt sind Sie eines. Er hat Sie dazu gemacht.« Er trat näher an sie heran, so dicht, dass sie einander fast berührten. Plötzlich verspürte sie den unbändigen Wunsch, sich in seine Arme zu werfen, an seine Brust zu sinken. Einfach nur um zu sehen, wie er reagieren würde. Doch Stolz und Vernunft hielten sie ab, und sie blieb stocksteif stehen.
»Wer ist denn hier das Opfer, Agent Dean?«, fragte sie mit einem gezwungenen Lachen. »Ich jedenfalls nicht. Vergessen Sie nicht: Ich bin diejenige, die ihn hinter Gitter gebracht hat.«
»Ja«, entgegnete er ruhig. »Sie haben den Chirurgen hinter Gitter gebracht. Aber Sie sind nicht unversehrt davongekommen.«
Sie sah ihn schweigend an. Versehrt. Das war genau das richtige Wort für das, was ihr angetan worden war. Eine Frau mit Narben an den Händen und einer Batterie von Schlössern an der Tür. Eine Frau, die nie wieder die heiße Augustsonne auf ihrer Haut spüren würde, ohne an die Hitze jenes Sommers und den Geruch ihres eigenen Blutes erinnert zu werden.
Wortlos drehte sie sich um und ging zur Tür hinaus, zurück ins Wohnzimmer. Dort ließ sie sich auf das Sofa sinken und blieb wie benommen sitzen. Er kam nicht sofort nach, und so war ihr ein kurzer Moment des Alleinseins vergönnt. Sie wünschte nur, er würde ganz einfach verschwinden, zur Wohnungstür hinausgehen und ihr die Ruhe und Abgeschiedenheit gewähren, nach der sich jedes leidende Wesen sehnt. Doch es sollte nicht sein. Sie hörte ihn aus der Küche kommen, und als sie aufblickte, sah sie, dass er zwei Gläser in den Händen hielt. Er reichte ihr eines.
»Was ist das?«, fragte sie.
»Tequila. Hab ich in Ihrem Küchenschrank gefunden.«
Sie nahm das Glas und betrachtete es stirnrunzelnd. »Ich wusste gar nicht mehr, dass ich den habe. Die Flasche ist uralt.«
»Jedenfalls war sie noch ungeöffnet.«
Und das lag daran, dass sie den Geschmack von Tequila nicht mochte. Die Flasche war nur eines von den vielen ebenso nutzlosen wie hochprozentigen Geschenken, die ihr Bruder Frankie von seinen Dienstreisen mitzubringen pflegte, wie der Kahlúa-Likör aus Hawaii oder der Sake aus Japan. Das war Frankies Art zu demonstrieren, was für ein Mann von Welt er war, seit er bei den Marines der US Army diente. Es schien nicht der schlechteste Moment, sein Souvenir aus dem sonnigen Mexiko zu verkosten. Sie nahm einen kleinen Schluck und musste blinzeln, als ihr die Tränen in die Augen schossen. Während der Tequila ihre Eingeweide zu wärmen begann, fiel ihr plötzlich ein Detail aus Warren Hoyts Vergangenheit ein. Er hatte seine ersten Opfer jeweils mit dem Schlafmittel Rohypnol außer Gefecht gesetzt, das er ihnen in ein Getränk gemischt hatte. Wie leicht es doch ist, uns in einem unbedachten Moment zu erwischen, dachte sie. Wenn eine Frau abgelenkt ist oder keinen Grund sieht, einem Mann zu misstrauen, der ihr ein Glas in die Hand drückt, dann ist sie wie ein Lamm, das sich willig zur Schlachtbank führen lässt. Und auch sie hatte keine Bedenken gehabt, ein Glas Tequila anzunehmen. Auch sie hatte einen Mann, den sie nicht besonders gut kannte, in ihre Wohnung gelassen.
Sie sah Dean an. Er saß ihr gegenüber, auf Augenhöhe mit ihr. Der Schnaps, den sie auf nüchternen Magen getrunken hatte, machte sich bereits bemerkbar, und ihre Arme und Beine fühlten sich taub an. Die anästhesierende Wirkung des Alkohols. Sie war ruhig, fast gleichgültig – eine gefährliche Stimmung.
Er rückte näher an sie heran, und sie zeigte nicht die gewohnte Abwehrreaktion. Dean verletzte ihre Privatsphäre in einer Weise, wie es nur wenige Männer bisher versucht hatten, und sie ließ es zu. Sie kapitulierte vor ihm.
»Wir haben es nicht mehr nur mit einem Einzeltäter zu tun«, sagte er. »Sondern mit einer Partnerschaft. Und einer der beiden Partner ist ein Mann, den Sie besser kennen als irgendwer sonst. Ob Sie es zugeben wollen oder nicht, Sie haben einen speziellen Draht zu Warren Hoyt. Und damit stellen Sie auch eine Verbindung zum Dominator dar.«
Sie atmete tief aus und erwiderte leise: »So arbeitet
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