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Der Meister

Der Meister

Titel: Der Meister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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muskulösen Leibern, die sich im Kampf winden. Wir sehen Gemälde von Anführern, die hoch auf ihren edlen Rössern thronen und über Schlachtfelder hinwegblicken, wo Soldaten in Reih und Glied stehen wie Ähren, die auf die Sense des Schnitters warten. Wir sehen Landkarten mit Pfeilen, die den Vormarsch siegreicher Armeen symbolisieren, und lesen die heroischen Verse von Kriegsballaden, die im Namen von König und Vaterland gesungen wurden. Die Triumphe großer Männer werden immer groß geschrieben – mit dem Blut ihrer Soldaten.
    Niemand sagt irgendetwas über die Frauen.
    Aber wir alle wissen, dass sie dort waren; mit ihrem zarten Fleisch und ihrer glatten Haut, ihrem Duft, der durch die Seiten der Geschichte weht. Wir sprechen vielleicht nicht gerne darüber, aber wir wissen alle, dass die Grausamkeiten des Krieges sich nicht auf die Schlachtfelder beschränken. Dass, wenn der letzte feindliche Soldat gefallen ist und eine Armee als Sieger zurückbleibt, die Soldaten dieser Armee sich als Nächstes die Frauen der Besiegten vornehmen.
    So ist es immer schon gewesen, wenngleich die brutale Wirklichkeit in den Geschichtsbüchern selten Erwähnung findet. Stattdessen lese ich von ruhmreichen Feldzügen, glänzend wie schimmernder Stahl. Von Griechen, die unter den wachsamen Augen der Götter in die Schlacht zogen, und von Trojas Fall nach einem Krieg, den uns der Dichter Vergil als eine Heldenschlacht schildert: Achill und Hektor, Ajax und Odysseus – Namen, deren Ruhm für die Ewigkeit bestimmt scheint. Er schreibt von klirrenden Schwertern, fliegenden Pfeilen und blutgetränkter Erde.
    Aber das Beste übergeht er.
    Es ist der Dramatiker Euripides, der uns von den Folgen der Niederlage für die trojanischen Frauen berichtet, doch auch er wählt seine Worte mit Bedacht. Er schildert, wie die entsetzte Kassandra von einem griechischen Anführer aus dem Tempel der Athene gezerrt wird, doch was dann geschieht, bleibt unserer Fantasie überlassen. Das Zerreißen ihres Gewandes, das Entblößen der Haut. Seine brutalen Stöße zwischen ihren jungfräulichen Schenkeln. Ihre verzweifelten Schmerzensschreie.
    Überall in der gefallenen Stadt Troja müssen solche Schreie aus den Kehlen zahlloser Frauen gedrungen sein, als die siegreichen Griechen sich nahmen, was ihnen zustand, und das Fleisch der eroberten Frauen mit dem Brandmal ihres Triumphs zeichneten. Hatte auch von den Männern Trojas der eine oder andere überlebt und war Zeuge dieser Demütigung geworden! Die antiken Schriftsteller schweigen sich darüber aus. Aber wie kann man seinen Triumph besser krönen als durch die Schändung derer, die der Besiegte liebte? Wie kann man eindrucksvoller unter Beweis stellen, dass man ihn wirklich besiegt hat, als indem man ihn zwingt, immer wieder und wieder mit anzusehen, wie man seine Lust befriedigt?
    So viel habe ich begriffen: Jeder Triumph braucht ein Publikum.
    Ich denke an die trojanischen Frauen, während unser Wagen mit dem zäh fließenden Verkehr die Commonwealth Avenue entlangrollt. Es ist eine viel befahrene Straße, und selbst jetzt, um neun Uhr abends, kommen die Autos nur langsam voran. So kann ich mir das Haus in aller Ruhe ansehen.
    Die Fenster sind dunkel. Weder Catherine Cordell noch ihr frisch angetrauter Gatte sind zu Hause.
    Mehr gestatte ich mir nicht, nur diesen einen ausgiebigen Blick, bevor das Gebäude aus meinem Gesichtsfeld verschwindet. Ich weiß, dass der Block überwacht wird, aber ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, einen Blick auf ihre Festung zu werfen, uneinnehmbar wie die Mauern einer alten Trutzburg. Eine Burg, die jetzt leer steht und daher für den Eroberer ohne Interesse ist.
    Ich wende mich zu meinem Fahrer um, dessen Gesicht im Schatten verborgen ist. Ich sehe nur eine Silhouette und das Blitzen der Augen – zwei gierig funkelnde Lichter in der Nacht.
    Im Fernsehen habe ich Aufnahmen von Löwen in der Nacht gesehen, das grüne Feuer ihrer Augen, die in der Dunkelheit leuchteten. Ich fühle mich an diese Löwen erinnert, an ihren Blick voll hungriger Entschlossenheit, wenn sie auf den richtigen Augenblick warteten, um sich auf ihre Beute zu stürzen. Jetzt sehe ich diesen Hunger in den Augen meines Gefährten.
    Den gleichen Hunger, den er auch in meinen Augen erblicken muss.
    Ich drehe das Fenster herunter und atme tief ein, als der warme Duft der Stadt hereinweht. Der Löwe in der Savanne, der seine Nase in den Wind hält, um die Witterung der Beute aufzunehmen.

15
    Dean

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