Der Meister
aufschnallte und aus den Schlaufen zog, spürte sie, wie Curtis sie anstarrte – eben wie ein Mann, der einer Frau beim Ausziehen zusieht. Sie streifte ihre Slipper ab, stellte sie neben Deans Schuhe und erwiderte kühl Officer Curtis’ Blick. Jetzt erst wandte er sich ab. Dann kehrte sie ihre Taschen nach außen und folgte Dean durch den Metalldetektor.
»Sie haben wirklich Glück«, sagte Curtis, als sie die Schranke passierte. »Um ein Haar wären Sie Abtastkandidatin des Tages geworden.«
»Was?«
»Unser Wachoffizier bestimmt jeden Tag im Zufallsverfahren, der wievielte Besucher eine Leibesvisitation über sich ergehen lassen muss. Sie sind knapp dran vorbeigeschrammt. Der Nächste, der hier durchkommt, ist dran.«
»Das wäre das Highlight des Tages für mich gewesen, so eine Leibesvisitation«, erwiderte Rizzoli trocken.
»Sie können jetzt Ihre Sachen wieder anziehen. Und Sie beide dürfen auch die Uhren anbehalten.«
»Sie sagen das so, als wäre es ein großes Privileg.«
»Nur Anwälte und Polizeibeamte dürfen von hier ab ihre Armbanduhren tragen. Alle anderen müssen ihre Klunker abliefern. Jetzt muss ich Ihnen nur noch einen Stempel aufs linke Handgelenk drücken, dann dürfen Sie rein in die Zellen.«
»Wir sind um neun Uhr mit Superintendent Oxton verabredet«, sagte Dean.
»Er wird sich ein bisschen verspäten. Hat mich gebeten, Ihnen zuerst die Zelle des Gefangenen zu zeigen. Danach bringe ich Sie dann in Oxtons Büro.«
Das Hochsicherheitsgefängnis Souza-Baranowski war die neueste Einrichtung des Strafvollzugs im Staat Massachusetts. Es verfügte, wie Officer Curtis ihnen erläuterte, über ein hochmodernes schlüsselloses Sicherheitssystem, das von zweiundvierzig Computerterminals mit grafischem Interface aus gesteuert wurde. Er wies sie auf die zahlreichen Überwachungskameras hin.
»Die senden alle rund um die Uhr Livebilder in die Zentrale. Die meisten Besucher bekommen überhaupt nie einen Vollzugsbeamten zu Gesicht. Sie hören nur die Anweisungen aus den Lautsprechern.«
Durch eine Stahltür gelangten sie in einen langen Korridor und setzten ihren Weg durch eine Reihe vergitterter Zwischentüren fort. Rizzoli war sich bewusst, dass jede ihrer Bewegungen überwacht wurde. Mit ein paar Eingaben über die Tastatur konnten die Wachmänner jeden Gang und jede Zelle absperren, ohne dafür ihren Kontrollraum verlassen zu müssen.
Am Eingang von Block C forderte eine Lautsprecherstimme sie auf, ihre Besucherausweise zur Überprüfung an ein Sichtfenster zu halten. Sie mussten ihre Namen nennen, worauf Officer Curtis meldete: »Zwei Besucher; sie möchten die Zelle von Häftling Hoyt inspizieren.«
Die Stahltür glitt zur Seite, und sie betraten den Tagesraum von Block C, den Gemeinschaftsbereich für die Gefangenen. Er war in deprimierendem Krankenhausgrün gestrichen. Rizzoli erblickte einen an der Wand befestigten Fernsehapparat, ein Sofa und mehrere Sessel, sowie eine Tischtennisplatte, an der zwei Männer sich einen Pingpongball zuspielten. Sämtliche Möbel waren am Boden festgeschraubt. Ein Dutzend Männer in blauem Drillich drehten sich gleichzeitig um und starrten die Besucher an.
Und besonders intensiv begafften sie Rizzoli, die einzige Frau weit und breit.
Die beiden Männer an der Tischtennisplatte unterbrachen sofort ihr Spiel. Einen Moment lang war nur das Geräusch des Fernsehers zu hören, auf dem CNN lief. Rizzoli hielt den Blicken der Gefangenen ungerührt stand. Sie war nicht bereit, sich einschüchtern zu lassen, auch wenn es nicht schwer zu erraten war, was sie alle dachten. Was sich in ihrer Fantasie abspielte. Dass Dean näher an sie herangetreten war, bemerkte sie erst, als er direkt neben ihr stand und sein Arm den ihren leicht berührte.
Die Lautsprecherstimme sagte: »Die Besucher können jetzt zur Zelle C-8 weitergehen.«
»Hier entlang«, sagte Officer Curtis. »Es ist ein Stockwerk höher.«
Als sie die Treppe hochgingen, hallten die Metallstufen unter ihren Schritten. Von der Galerie, die an den Zellentüren vorbeiführte, konnten sie in den offenen Tagesraum hinunterblicken. Curtis führte sie den Gang entlang, bis sie vor der Tür mit der Nummer 8 standen.
»Da wären wir. Das ist die Zelle von Häftling Hoyt.«
Rizzoli stand an der Schwelle und starrte in den Käfig. Sie konnte nichts entdecken, worin sich diese Zelle von einer beliebigen anderen unterschieden hätte – keine Fotos, keine persönlichen Gegenstände, die ihr verraten hätten,
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