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Der Meisterdieb und seine Feinde

Der Meisterdieb und seine Feinde

Titel: Der Meisterdieb und seine Feinde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Wolf
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Spazierstock einsetzte.
    Sie mochte 60 sein, war groß
und schlank, hatte hellblau gefärbtes Haar unter einem mondänen Hut und trug
einen Designer-Mantel vom allerfeinsten Schnitt. Außerdem Handschuhe. Und eine
goldgefasste Brille, die mit Funkelsteinen besetzt war.
    „Heh!“, schrillte sie. „Was
machst du da?!“

    Sie hielt den Schirm, als
wollte sie Tim damit aufspießen. Der wich zwar einen Schritt zurück, stellte
sich dann aber auf in imponierender Haltung.
    „Ich jäte Unkraut. Das sehen
Sie doch.“
    „Warum? Wieso?“, kreischte sie.
    „Weil ein Grab voller Unkraut
hässlich und unwürdig ist.“
    „Was geht dich das an? Es ist
nicht dein Grab.“
    „Ist es nicht. Dann würde es
anders aussehen.“
    „Niemand hat dich beauftragt.
Lass das Grab gefälligst wie es ist.“
    „Dann sind Sie wohl eine
Faistläber-Hinterbliebene?“
    „Allerdings. Ich bin Sieglinde
Faistläber. Und der Tote, der hier liegt, war mein... Jedenfalls war ich mit
dem Kerl verheiratet. 24 grauenvolle Jahre. Ein Martyrium ( Leidensweg )!
Gott sei Dank! hat er sich zu Tode getrunken. Zu Lebzeiten konnte ich ihm nicht
die Stirn bieten. Aber jetzt sollen alle sehen, wie sehr ich ihn verachte,
hasse, verfluche. Ich lasse sein Grab verkommen.“
    „Hm!“, meinte Tim nach einer
nachdenklichen Pause. „Ich weiß nicht, ob das so toll ist.“
    „Weshalb“, rief Gaby, „sind Sie
dann 24 Jahre an seiner Seite geblieben? Wozu gibt’s denn die Scheidung?“
    „Weil... weil...“ Die Frau
stieß ihren Regenschirm auf den Boden und hätte fast ihren Fuß getroffen.
„Also, er hatte das Geld. Und wir hatten einen Ehevertrag. Demzufolge hätte ich
bei einer Scheidung nur das Existenz-Minimum gekriegt. Keine Mark mehr. Ich
musste also ausharren. Aber jetzt komme ich jede Woche einmal her und — spucke
auf sein Grab.“
    „Immer freitags?“, forschte
Tim.
    Erstaunt sah sie ihn an durch
ihre 1000-Euro-Brille. „Allerdings. Woher weißt du das?“
    „Weil heute Freitag ist. Und
zum Unkrautjäten sind Sie ja nicht hier. Wenn Sie jetzt spucken wollen — bitte
sehr! Wir werden nicht lachen. Applaudieren werden wir aber auch nicht. Ich
bearbeite inzwischen ein anderes Grab — zur ersatzweisen Abbüßung meiner
Jugendstrafe.“
    „Jugendstrafe?“ Ihre Stimme
klang alarmiert.
    „Leider“, nickte Tim, „hat man
uns erwischt. Uns vier. Zehn Raubüberfälle konnten sie uns nachweisen. Und in
der Jugendstrafanstalt war’s überhaupt nicht lustig. Aber die Reststrafe wurde
dann ausgesetzt. Stattdessen müssen wir hier arbeiten. Und im Altersheim.“
    Sieglindes Mund zitterte etwas.
Langsam zog sie sich zurück.
    „Dann werdet aber nicht wieder
rückfällig“, mahnte sie. „Und — lasst Egons Grab wie es ist.“
    Sie ging rückwärts, bis sie
fast gestürzt wäre, drehte sich um und eilte davon, wobei sie mehrmals
zurücksah. Klößchen prustete los. Karl kicherte.
    Gaby sagte: „Dass du uns in
deine kriminelle Vergangenheit mit reinziehst, Häuptling, finde ich gar nicht
nett. Die Spuckerin hat alles geglaubt.“
    „Sie hatte sogar Bammel“,
wieherte Klößchen. „Jedenfalls — die Geldabholerin der Erpresser war sie
nicht.“
    Tim sah, wie Sieglinde durchs
Tor rannte. Schon wollte er sich abwenden, doch bei dem dichten Strauch — links
vom Tor, innerhalb der Mauer — bewegte sich etwas: eine große, graue Gestalt —
so grau wie die umfriedende Mauer, weshalb nur die Bewegung auffiel.
    Tim strengte die Augen an. Ein
Mann war’s, ein großer Typ in Mantel und Hut. Die angewinkelten Arme hielten
etwas vors Gesicht. Ein Fernglas? Immerhin betrug die Entfernung 350 oder 400
Meter. Und das Tageslicht war, wie gesagt, eine grau angepinselte Nacht.
    „Ich glaube, unser Typ ist da,
Freunde. Er steht beim Tor und beobachtet uns. Ich versuche, ranzukommen.“
    Tim machte zwei hastige
Schritte, bückte sich und hob ein Steinchen auf. Indem er die Faust schwenkte,
lief er los.
    „Frau Faistläber“, brüllte er
dabei, „Sie haben Ihr Portemonnaie verloren. Warten Sie!“
    Die Frau war nicht mehr zu
sehen, saß vermutlich schon im Wagen und hörte ihn nicht. Tim düste zum Tor,
sah aber bereits, dass sein Trick nicht funktionierte.
    Die Gestalt im grauen Mantel
trat eilig den Rückzug an. Tim sprintete wie auf dem Landessportfest, geriet
auf fauliges Laub und hätte beinahe einen Salto gedreht.
    Als er durchs Tor rannte,
verschwand fernab auf der Straße ein Wagen in grauen Nebelschwaden, die der
Wind vom Umland herantrug. Der

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