Der Meisterdieb
auf mein Gesicht plätscherte.
Im kurzen Licht des nächsten Blitzes sah ich zwei glühende Augen und die Schneide eines Dolches.
Der Dolch zeigte kurz auf mich, dann schwenkte er zur Seite. Der nächste Blitz ließ mich erkennen, wie der schwarzbärtige Mann vor mir die Spitze der Waffe in den Körper Alaid Gurs bohrte.
Der Alte hob sich mit letzter Kraft hoch, wandte seinen Kopf und sah seinen Mörder. Er murmelte mit schwacher Stimme etwas, das keiner von uns verstand.
Während er starb, durchtrennte der Dieb die Lederschnur, mit der Gur seine Münzen gesichert hatte. Ich lachte auf und schrie: »Ich wünschte, ich hätte es getan!«
Die Befriedigung, dass mein Peiniger verstand und in den letzten Herzschlägen seines Lebens genau das spürte, was er mir wohl ein halbes Jahr lang hatte angedeihen lassen, erfüllte mich. Seine Augen brachen, als ich dem Dieb zuschrie: »Wenn du mich nicht mitnimmst, musst du mich auch umbringen.«
Aber ich stand längst im Regen auf meinen Füßen und war bereit, in rasender Flucht davon zu rennen.
»Mitnehmen?« staunte er. »Wohin?«
»Zu den anderen. In deine Zunft oder wie ihr es nennt.«
»Du meinst… zu König Aagolf?«
»Ist mir gleich, wie er sich nennt. Bloß fort aus diesem Dreckleben!« schrie ich. »Entscheide dich! Sonst schreie ich, dass die Wachen zusammenlaufen.«
Der mörderische Dieb steckte den geschliffenen Dolch in seinen Stiefelschaft und winkte mir. »Komm!« sagte er. »Schnell.«
Wir flüchteten durch den Regen, hasteten entlang den Mauern, treppauf und treppab, durch den krachenden Donner und durch die Gassen der menschenleeren Stadt. Schließlich zerrte mich der Mann durch einen schmalen Spalt in einer halb zerfallenen Mauer. Von ihren Quadern wurde eine Palastfront gestützt.
Ich konnte wieder sprechen, ohne gegen den Donner anbrüllen zu müssen. »Wohin bringst du mich?«
»In unser Versteck. Vielleicht straft mich Aagolf dafür.«
»Warte es ab«, sagte ich. Wir tasteten uns durch schmale Spalten, stolperten über Schmutz und Gerümpel und bogen immer wieder nach rechts und links ab. Schließlich tauchten vor uns einige Lichter auf. Die Gerüche nach Essen und menschlichem Schweiß schlugen mir entgegen. Im Lauf der letzten sechs Monde hatten sich meine Sinne noch zusätzlich geschärft; ich kannte jeden Geruch und besaß nun den Instinkt eines Tieres, eines jener struppigen, mageren Köter, mit denen ich mich um Knochen und Abfälle gebalgt hatte.
»Ist das euer Versteck?« flüsterte ich, als wir den Rand einer Art Höhle erreichten, die sich in verschiedene kleinere Bereiche aufteilte. An vielen Stellen brannten Feuer, leuchteten die Flammen von Öllampen und Fackeln.
Auf den ersten Blick konnte ich sehen, dass sich rund fünf Dutzend Sarphander in der rußigen Höhle befanden. Frauen und Männer in jedem Alter und von jedem Aussehen, abgerissen, prachtvoll gekleidet oder in Lumpen.
»Ja. Unser Versteck. Jeder, der es verrät, ist des Todes.«
»Ich werde nichts sagen«, versprach ich. »Wer ist Aagolf?«
Der Mörder fasste mich hart an der Schulter, zerrte und schob mich aus dem Dunkel an einigen wachsamen Posten vorbei in die Nähe eines lodernden Feuers. Bratenstücke drehten sich an eisernen Spießen. Es roch so verlockend, dass ich mich zusammennehmen musste, um nicht einen der heißen Fleischbrocken aus den Flammen zu reißen.
Wir bahnten uns einen Weg durch eine bizarre Vielfalt alten Gerümpels. Dann stand ich, zitternd vor Furcht und Hunger, vor einem Podest wie jenem, auf dem ich verkauft worden war. Ein magerer Mann mit einem kantigen schwarzen Schädel starrte mich an. Dann bellte er mit einer Stimme, die scharf war wie eine Dolchklinge: »Wer ist dieser verhungerte Strolch?«
»König Aagolf«, antwortete der Dieb und warf seinem Herrn den prallgefüllten, schweren Beutel meines bisherigen Peinigers zu. »Das ist Arruf, der Bettelknabe von Alaid Gur. Er sah zu, wie ich Gur tötete. Er verlangte, vor deine Augen gebracht zu werden. Er ist mager, halb verhungert, aber er hat unter dem Stock Gurs eine harte Lehrzeit durchgestanden. Ich meine, er passt zu uns. Aber es wird deine Entscheidung sein!«
Inzwischen wusste ich, dass es in Sarphand mindestens zwei unterschiedliche Möglichkeiten gab, zu leben und die Welt zu sehen. Von oben herunter, so, wie es mir in den unvergesslich schönen Tagen im Palast Shakars ergangen war, und von unten herauf, etwa an der Seite eines bestialischen Bettlers, wie es der Ermordete
Weitere Kostenlose Bücher