Der Meisterdieb
gewesen war. Hier entdeckte ich nun eine dritte Möglichkeit. Es war ein Zwischenreich, die Mitte zwischen oben und ganz unten.
Der »König« starrte mich an. Unter dem Blick seiner stechenden schwarzen Augen wurde mir heißer und heißer. Zugleich begann mein Magen zu knurren. Meine Knie schlugen wie im Frost gegeneinander. Der König sah merkwürdig aus. Noch nie hatte ich einen solchen Menschen gesehen. Auf dürren Beinen und mit einem Becken, das so schmal war wie meines, saß ein mächtiger Oberkörper, fett und muskelstarrend. Um den Hals trug er eine schwere goldene Kette mit einem runden Medaillon daran. Sein Kopf war geformt wie ein Würfel mit schräg abgerundeten Kanten. Dünnes, gekräuseltes schwarzes Haar, pechschwarze Brauen, ein ebensolcher Schnurrbart und ein fast eckiger Backenbart, die Brust voll schwarzen Haargekräusels. Er wirkte wie ein riesenhafter Zwerg, dessen Ahnen aus fernen Ländern kamen, wo die Sonne die Haut verbrannte.
Endlich stieß er mit seiner knirschenden Stimme wieder ein paar Worte hervor. Sie galten mir. »Arruf, wie?«
Ich dachte an Gurs biegsamen Stock und antwortete zögernd und ehrerbietig: »Ja, Herr König Aagolf. Ich bin der arme Waisenknabe Arruf. Ich will dir dienen bis zum Tod. Aber erst dann, wenn ich gegessen habe.«
Das dröhnende Gelächter des Königs schien die moderbedeckten Quader auseinanderbrechen zu wollen. »Du wirst mein persönlicher Diener, Kerlchen! Ich zeige dir, wie man stiehlt und betrügt. Aber du wirst einen prügelnden Herrn gegen einen strengen Herrn eintauschen.«
Ich antwortete voller Demut: »Ich tue alles für dich, Herr König Aagolf. Aber gebt mir zu essen und zu trinken. Als Verhungerter nütze ich niemandem.«
Der König der Diebe und Mörder stieß abermals ein unartikuliertes Gelächter aus und winkte eine Dirne zu sich heran. Er brüllte: »Hier ist ein Neuer. Arruf. Gebt ihm zu essen, bis er speit. Er steht unter meinem Schutz. In seinen flinken braunen Augen sehe ich Gerissenheit, völligen Mangel an Skrupeln und eine starke Fähigkeit zu Lug und Trug, die zu uns passt; und wenn er uns verrät, tötet ihn ohne Bedauern. Komm her, verwelkte Rose meiner alten Tage!«
Er bedachte mich mit einem schauerlichen Grinsen, das zwei Reihen gelber und schwarzer Zahnstummel zeigte, dann riss er ein vollbusiges Weib mit roten Haaren an sich.
Mein diebischer Beschützer zog mich zum nächsten Feuer und drückte mich auf eine stinkende Matratze.
»Iss und trink«, sagte er laut und versuchte, den Lärm in der schwarzen, raucherfüllten Höhle zu übertönen, »und wenn du satt bist, kannst du ruhig schlafen. Niemand wird dir etwas antun.«
Das war der erste Kontakt, den ich mit einer Schicht des Lebens von Sarphand hatte, die mir neu war. Zum erstenmal nach rund einem Jahr schmeckte mir, was ich aß und trank.
König Aagolf hielt sein Versprechen. Ich war so etwas wie sein persönlicher Laufbursche. Ich trug Botschaften in jeden Teil der Stadt. Ich war derjenige, der die Beute wegtrug, wenn die Wachen einen Dieb schnappten. Wenn ich richtig und schnell gehandelt hatte, wurde ich gelobt und bekam ein kleines Geschenk: etwa ein Paar Stiefel aus köstlich weichem Leder oder einen ledernen Lendenschurz, der meine Haut nicht mehr aufscheuerte. Oder einen Anhänger aus roten Korallen. Ich lernte jeden Winkel von Sarphand kennen, den ich bis zu diesen Tagen noch nicht kannte. Den Hafen beispielsweise und das Umland. Sogar den Palast des Sarpha betrat ich mehrmals, ohne dass man mich schnappte.
Dieses Leben gefiel mir. Ich ertrug jede Laune des Königs der Diebe fast fröhlich. Ich wusste, dass diese zweite Lehrzeit auch eines Tages enden würde. Und je mehr ich in dieses Leben hineinsank, desto sicherer wurde ich in meiner Überzeugung: Eines fernen Tages, wenn ich groß, stark und erwachsen war, würde ich der König der Diebe sein!
Versagte ich allerdings, wurde ich geschlagen. Die Schläge verursachten Schmerzen. Also versuchte ich, keine Schläge mehr zu erhalten. Ich lernte ununterbrochen, nicht zu versagen und meine Aufgaben perfekt zu erledigen.
Wie erleichtert man einen Eunuchen, der auf dem Weg zum Markt war, um sein Gold? Ich weiß es heute besser als fast jeder andere.
Wie stiehlt man dem scheinbar blindem Bettler die weniger wertlosen Münzen aus der Schale? Ich lernte es: indem man ihn mit einem silbernen Spiegel für einen Augenblick blendet.
Wie verschleppt man ein Lamm für das abendliche Essen in der Höhle? Wie
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