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Der Meisterdieb

Der Meisterdieb

Titel: Der Meisterdieb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Kneifel
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schafften es zwei Mädchen und drei Männer, auf dem Markt Sarphands Melonen, andere Früchte und Hühner zu stehlen, ohne dass es überhaupt jemand merkte, und wenn doch, dann erst eine halbe Stunde später?
    Ich lernte alles und noch mehr. Vor allem lernte ich, dass ein Egoist gegenüber anderen Menschen gewisse Vorteile hat. Er ist als erster satt beispielsweise, denn was man gegessen hat, kann einem niemand mehr nehmen. Die Klippen des Lebens waren voller scharfer Kanten, und ich schaffte es, an ihnen vorbei zu schwingen, ohne verletzt zu werden. Ich schwamm nicht immer an der Oberfläche, aber in riskanten Momenten tauchte ich auf und brachte mich in Sicherheit. Ich lernte wie eine Ratte in der nassen Finsternis der Kanäle: Entweder überlebte man oder man starb. Es bildete sich in dem Kind, das ich damals war, ein messerscharfer Verstand heraus, der nur ein Ziel hatte: überleben um jeden Preis.
    Aagolfs Prügel waren mir eine wichtige Hilfe. Er schlug mich, während er lachte, und irgendwie taten die Hiebe nicht so weh wie bei diesem Abschaum, dem Bettler Gur.
    Ich weiß heute nicht mehr, ob es eine Jahreszeit lang war oder zwei. Wahrscheinlich waren es mindestens zwei Sommer, die ich in der Höhle verbrachte und all das lernte, was ein junger Sklave und Dieb noch nicht kannte.
    Ganz langsam kamen die anderen darauf, dass ich viel besser als Köder denn als Beteiligter zu gebrauchen war. Also…
    Ich war es, der mitten auf dem Markt zusammenbrach, von oben bis unten mit Blut bedeckt – es war das Blut einer gestohlenen Henne – und schrie, dass es von den Mauern widerhallte. Die dicken Marktfrauen stürzten sich auf mich und versuchten, den Blutfluss zu stillen.
    Als sie sich in einem aufgeregten Haufen um mich herum gesammelt hatten, plünderten meine Freunde die Marktstände und die Wagen, mit denen die Bauern ihre Ware aus dem Umland Sarphands herbeigekarrt hatten.
    Ich wurde zum Köder.
    Ich merkte bald, dass es sehr viel mehr Spaß machte, die Menschen zu betrügen, als sie zu bestehlen. Es erforderte mehr Mut, weil ich stets allein war. Es erforderte aber auch mehr Geistesgegenwart und mehr Verstand, diese Rollen zu spielen.
    Wer warf sich vor die Füße der Sänftenträger und markierte einen Anfall, bei dem mir gelber Schaum vor die Lippen trat und ich mich herumwälzte, als sei ich tollwütig oder geisteskrank? Ich war es, ich, Arruf.
    Inzwischen war ich viel größer geworden. Mein Haar war gewachsen; die Favoritin des Königs klaubte eigenhändig die Läuse und anderes Ungeziefer aus meinen Haaren. Ich war auch keineswegs mehr verhungert, dreckig und voller Schorf. Ich war sauber und hatte einen ehrlichen Blick. Die Marktfrauen, die ich gestern bestohlen hatte, dieselben Marktweiber steckten mir heute die leckersten Bissen zu und tätschelten mich.
    Wer hinkte, das rechte Bein in einer primitiven Schiene, vor dem Palast des Sarpha auf und ab und provozierte einen Wächter, mit dem Speerschaft nach ihm zu stoßen? Ich war es, Arruf. Ich zerdrückte auch die Blase mit verdünntem Ochsenblut und schrie so laut, dass sich die Bürger zusammenrotteten und den Wächter ablenkten.
    In der Zwischenzeit arbeitete unsere Bande und stahl alles, was nicht eingemauert, festgeschraubt oder angenagelt war.
    Wenn ich wieder zu mir kam, den Wächter anlächelte und ihm mit schwacher Stimme versicherte, dass ich keinen Schaden genommen hatte, merkte ich, dass mein Lächeln, mein Augenaufschlag und meine Gesten auf andere Menschen eine fast zauberische Wirkung hatten. Der Wächter war erleichtert. Er lächelte zurück. Ich stand auf, mein Gesicht zuckte, Tränen rollten aus meinen großen Augen, und während ich die Treppen zur nächsten Ebene hinunterhinkte, zogen sich meine Freunde blitzschnell zurück, beladen mit allem, was sie während meiner Ohnmacht hatten an sich raffen können.
    Nach dem fünfzehnten Erlebnis dieser Art setzte sich in mir das Wissen fest, dass meine Begabung darin lag, andere Menschen um den Finger zu wickeln.
    Danach setzte ich meine Fähigkeiten gezielt und ohne jede Skrupel ein.
    Ich. Ich. Ich war mir der Wichtigste. Meine Persönlichkeit begann sich zu bilden und zu verstärken.
    Und dann, rund sechs Monde später – oder waren es mehr? – kam die Nacht, in der ich Sheba-Nocciyah traf.
    Oder traf sie in Wirklichkeit mich?
    Entschuldigt, Freunde, aber ich weiß wirklich nicht mehr, wann das war. Ob ich nun zehn Sommer oder zwölf alt war oder ob es ein paar Sommer mehr waren – diese

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