Der Memory Code
entdeckt haben, verbringe ich diese Stunde am Morgen jeden Tag allein mit ihr. Ich halte sozusagen Zwiesprache mit ihren Gebeinen.” Er lachte leise in sich hinein.
Josh atmete tief durch, hielt die modrige Luft einen Moment an und ließ sie dann ganz konzentriert entweichen. War dies die Frau, die er sonst nur als aus Bruchstücken bestehendes Wesen kannte? Als Phantom aus einer Vergangenheit, an die er zwar nicht glaubte, die ihn aber nicht losließ?
Unter dem Ansturm der Informationen aus Gegenwart und Vergangenheit schmerzte ihm der Schädel. Josh musste sich konzentrieren: entweder auf das Jetzt oder das Einst. Eine Migräne konnte er sich nicht leisten.
Er schloss die Augen.
Halte dich an die Gegenwart! An den Menschen, der dir als Ich vertraut ist!
Josh. Ryder. Josh. Ryder. Josh Ryder.
Diese Methode hatte ihm Dr. Talmage empfohlen. Sie sollte verhindern, dass er von einer Episode übermannt wurde. Der Schmerz ließ allmählich nach.
“Bellas Geheimnisse machen Sie wohl neugierig, hm?”
Joshs “Ja” war kaum zu hören.
Der Professor guckte ihn an, als wolle er seine seelische Temperatur messen. Dann setzte er seinen Vortrag fort. Er schien seinen Gast für möglicherweise nicht ganz richtig im Kopf zu halten. “Wir gehen davon aus, dass Bella Vestalin war. Geheiligt und verehrt, genossen diese Jungfrauen sowohl Privilegien als auch besonderen Schutz. Das Feuer zu hüten, den Herd sauber zu halten – das waren die Aufgaben der Frau in der Antike. Ist heute nicht viel anders, auch wenn die Frauen sich noch so sehr ins Zeug legen, um uns Männer zu einem Sinneswandel zu veranlassen.” Der Professor lachte. “Im alten Rom erhielt die Flamme, die zum Überleben der Gesellschaft unbedingt erforderlich war, irgendwann eine spirituelle Bedeutung. Schriftlichen Quellen zufolge war es zum Hüten des Staatsherdes erforderlich, die Feuerstelle täglich mit dem heiligen Wasser der Nymphe Egeria zu benetzen und aufzupassen, dass die Flamme nicht erlosch. Das hätte Ungemach über die Stadt gebracht und wäre ein unverzeihlicher Frevel gewesen. Dies war die Hauptaufgabe der vestalischen Jungfrauen, aber …”
Während der Professor weiterdozierte, hatte Josh das Gefühl, als eile er ihm voraus. Als wisse er ganz genau, was als Nächstes kam – nicht etwa in Form konkreter Information, sondern als vage Erinnerungen.
“Vestalinnen wurden bereits im zarten Alter von nur sechs bis zehn Jahren aus den vornehmsten Geschlechtern Roms ausgewählt. Heute können wir uns so etwas nicht mehr vorstellen, doch damals betrachtete eine Familie es als ausgesprochene Ehre. In großer Zahl stellten beflissene Väter und Mütter ihre Töchter dem Pontifex Maximus vor, dem Hohepriester und obersten Wächter des altrömischen Götterkults. Der Pontifex Maximus führte die Oberaufsicht über die vestalischen Jungfrauen, und alle Eltern hofften natürlich, dass ihre Tochter die Auserkorene ist. Nachdem die Novizin ausgesucht war, wurde sie in das Gebäude geleitet, in dem sie die kommenden drei Jahrzehnte verbringen musste: in die große, weiße Marmorvilla direkt hinter dem Tempel der Vesta. In einem streng gehüteten Ritual, dem nur die anderen fünf Vestalinnen beiwohnten, wurde sie unverzüglich gebadet und so frisiert wie eine Braut. Nachdem man ihr ein weißes Gewand angelegt hatte, begann ihre Unterweisung.”
Josh nickte, den Ablauf der Szene nahezu vor dem geistigen Auge, ohne jedoch zu wissen, wieso er ihn sich mit solcher Präzision ausmalen konnte: die bangen jungen Gesichter, die Spannung der Menge, die Festtagsstimmung. Dann durchbrach die Frage des Professors diese Traumszenerie und riss Josh schlagartig in die Gegenwart zurück.
“Scusi – was sagten Sie?”, fragte Josh.
“Ich bat sie gerade, den Medien nichts von dem mitzuteilen, was Sie hier sehen oder hören. Die Presse war bereits gestern den ganzen Tag hier und wollte uns Informationen entlocken, die wir noch für uns behalten möchten. Ein ganzer Pulk von Reportern folgt uns auf Schritt und Tritt, als wären sie ausgehungerte Straßenköter! Insbesondere einer … wie heißt der noch … ach ja: Charlie Billings.”
Josh kannte Charlie. Vor einigen Jahren hatten sie noch zusammengearbeitet. Charlie war ein guter Journalist, und beide hatten sich vorgenommen, Freunde zu bleiben. Falls Charlie sich aber in Rom aufhielt, ließ das nichts Gutes für die Ausgrabung erahnen. Ihm eine Story vorzuenthalten, war ein hartes Stück Arbeit.
“Dieser
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