Der Memory Code
machen.”
“Wozu sollte ich? Habt ihr doch auch nicht, du und Tante Nancy!”
Alex lachte verhalten in sich hinein. “Ah, da drüben ist Davis ja. Los komm, wir wollen ihm gratulieren.”
Der Kurator stand vor der Fassade von Laurelton Hall, der Sommerresidenz von Louis Comfort Tiffany, die in 1980 von Long Island ins Met verlegt worden war. Eingerahmt von dem mit Glyzinien verzieren Buntglasbogen, war er ins Gespräch vertieft mit einem Mann, der Alex und Rachel den Rücken zukehrte.
Obwohl Rachel ihn nur von hinten sah, wusste sie unwillkürlich, dass es derselbe Herr war, der ihr schon den ganzen Abend auffiel. Derjenige, dem sie nachlief und gleichzeitig auswich. Nur, wie kam es, dass sie ihn allein an seiner Pose erkannte? An der leicht schräg geneigten Haltung des Kopfes? Sie war ihm doch nie persönlich begegnet!
Zuerst wollte sie schon instinktiv kehrtmachen, aber wenn sie eins war, dann vor allem logisch denkend, und ein solch irrationaler Gedanke wie Rückzug war ihr ein Gräuel. Also hakte sie sich bei ihrem Onkel unter und ging mit ihm auf die beiden Männer zu.
“Rachel Palmer, Alex Palmer”, sagte Davis zu seinem Begleiter und stellte die beiden vor. “Rachel, Alex – das ist Harrison Shoals.”
Rachel war, als stünde sie vor einem warmen Licht. Mental ins Wanken geraten, hörte sie wieder das Summen und sah ihren Onkel an. Er guckte etwas verdrießlich drein.
“Mr. Shoals und ich kennen uns schon”, bemerkte er, indem er den Angesprochenen mit Handschlag begrüßte. “Freut mich, Sie wiederzusehen, Harrison.” Er klang allerdings alles andere als erfreut. “Harrison ist der Händler, der uns bei der Auktion den Bacchus vor der Nase weggeschnappt hat”, erklärte er seiner Nichte. Sein Ton verriet ihr, dass der Stachel noch ziemlich tief saß.
Rachel traute ihren Ohren nicht. Das sollte der unbekannte Bieter sein, der ihr seinerzeit das Gemälde abspenstig gemacht hatte?
“Freut mich sehr, dass Sie das offenbar so großmütig sehen”, kam geschliffen und charmant die Antwort von Shoals.
“Ich müsste lügen, gäbe ich nicht zu, dass ich meinerseits auch gern mit gelungenen Schnäppchen prahle. Zählt zu den Erfolgserlebnissen des smarten Kunstsammlers.”
In Rachels Ohren klang die Unterhaltung lauter, als sie in Wirklichkeit war. Die Redewendung “
Ich müsste lügen”
hallte in ihrem Kopf wider und ging ihr auch dann nicht aus dem Sinn, als Harrison Shoals ihr zur Begrüßung die Hand hinstreckte.
Nur unter Aufbietung aller Kräfte gelang es ihr, den Handschlag zu erwidern. Shoals’ Augen waren von einem frostigen Grün, der Farbe des winterlichen Meeres. Und dann berührten sich ihre Finger.
Alex und Davis unterhielten sich über den ausgestellten Schmuck, und der Museumsdirektor versuchte, Rachels Onkel dazu zu bringen, die Exponate seiner Frau dem Museum als Dauerleihgaben zur Verfügung zu stellen. Daher bemerkten sie wohl weder Rachels überraschte Miene beim Händedruck noch den konsternierten Ausdruck auf Shoals’ Gesicht.
Bei der Berührung wurde ihr glühend heiß. Ihr war, als würden ihre Hände miteinander verschmelzen, und zwar so schlagartig und so täuschend echt, dass beiden – wie sie später erfahren sollte – der Ausdruck “Selbstentzündung” durch den Sinn zuckte. Keiner von beiden sprach es jedoch laut aus.
In Harrison Shoals’ Augen lag ein besorgter Blick. Deinetwegen?, fragte sich Rachel. Oder sorgt er sich mehr um sich?
Sie spürte ein Ziehen, so qualvoll und so mächtig, dass sie schon glaubte, sie habe einen Schritt nach vorn gemacht. Doch nein, noch standen sie beide gut eine Armlänge voneinander getrennt.
Dann kam das verdammte Summen wieder. Rachel versuchte, sich zu wehren. Dagegen anzukämpfen, ihr Gleichgewicht nicht zu verlieren. Sich nicht in die warme Leere ziehen zu lassen. Zu widerstehen. Für einen Moment verschwamm alles ringsum, doch als sie wieder klar sehen konnte, schien ein Windhauch ihre Tränen fortgeblasen zu haben.
Der Saal war dunkler als noch vorhin, die Kerzen verströmten ein schimmerndes Licht. Immer heimeliger wurde die Atmosphäre, und der Rosenduft verdichtete sich zu einem berauschenden Parfüm, von dem Rachel ganz schwindlig wurde. Das Atmen fiel ihr schwer, und noch mühsamer war es, aufrecht stehen zu bleiben.
Die Jazzklänge der Band zerflossen zu einem lockenden, langsamen Walzer. Die Luft fing an zu schwingen und zu wabern, als blicke man durch einen Dunstschleier.
Dieser Mann, so merkte
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