Der Memory Code
Rachel jetzt, er tanzte mit ihr, und dort, wo seine Hände sie berührten, dort hinterließen die Fingerspitzen unauslöschliche Male. Und wie sie so über das Parkett glitten, da hatte sie das Gefühl, als schreie ihr Körper förmlich auf bei jedem Kontakt.
Die Menschen ringsum sprachen Italienisch. Sie war nicht mehr im Metropolitan Museum of Art, sondern in einem prunkvollen Palast, irgendwo in einem fremden Land. Sie sah ihre Schuhspitzen – nicht die silberfarbenen Riemchenpumps, die sie am Abend angezogen hatte, sondern elegante Knöpfstiefeletten, und ihr Abendkleid war auf einmal rosa und reichte bis zum Boden. Am Nacken spürte sie einen Luftzug, denn ihre Frisur war hochgesteckt … aber wie konnte das sein? So trug sie ihr Haar doch sonst nie!
“Wir müssen unser Geheimnis noch eine Weile wahren. Versprechen Sie mir das? Sonst könnte es gefährlich werden.”
Plötzlich von Furcht ergriffen, bejahte sie mit einem Nicken.
Er wirbelte sie im Walzertakt, dass der Saal nur so an ihr vorübersauste, ein Rausch aus Farben. Dann blinzelte sie heftig, und alles – die Kerzen, die Klänge, der Blumenduft – war wieder so wie vorher. Sie fasste sich an die Wange, verwirrt von dem plötzlichen Fieber, das sie ergriffen hatte. Doch ihre Haut fühlte sich kühl an.
41. KAPITEL
D och manchmal kommt es vor, dass der Engel des Vergessens selber vergisst, die Aufzeichnungen der früheren Welt aus unserem Gedächtnis zu tilgen. Dann werden unsere Sinne heimgesucht von bruchstückhaften Erinnerungen an ein anderes Leben. Wolkenfetzen gleich treiben sie über die Hügel und Täler unseres Bewusstseins und verweben sich mit den Ereignissen unserer jetzigen Existenz
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– Sholem Asch, in “Jesus der Nazarener” –
New York City – Montag, 07:15 Uhr
Der Himmel war bedrohlich grau und spiegelte damit Joshs Stimmung wider. Nachdem er seine Wohnung in der 53. Straße West verlassen hatte, marschierte er vier Häuserblocks bis zum Columbus Circle und betrat dann den Central Park durch den Eingang Merchants’ Gate. Dort ging er in nördliche Richtung weiter und wartete darauf, dass sich seine innere Spannung zumindest teilweise legte. In den vier Monaten vor seiner Romreise war dieser morgendliche Marsch zur Phoenix Foundation eines der wenigen Dinge gewesen, die ihn innerlich zur Ruhe kommen ließen. Nach einigen Hundert Metern blieb er stehen und atmete tief den schweren Geruch von feuchtem, frisch gemähtem Gras ein. Seine Unruhe verflog trotzdem nicht.
Was in Rom geschehen war, hatte ihn in Gefahr gebracht – eine Gefahr, die ihn möglicherweise bis hierher nach Hause verfolgt und zu viele Fragen aufgeworfen hatte. Wo waren die Edelsteine abgeblieben? Welche Macht ging von ihnen aus? Warum war der Räuber umgebracht worden? Von wem? Was war mit Gabriella?
Noch von Rom aus hatte er versucht, sie zu erreichen, allerdings nur ihre dienstliche Telefonnummer in Yale erhalten, und obwohl er ihr Nachrichten auf Band hinterlassen hatte, war ein Rückruf bisher ausgeblieben. Seit der Ankunft in New York hatte er es noch ein paarmal versucht, allerdings vergeblich, was ihn nur noch nervöser machte.
Eilig marschierte er vorbei an einer Reihe von Seidenkiefern, die wie finstere Posten den Parkweg säumten. Inzwischen rannte er fast, obwohl das gar nicht nötig war. Bis zur Stiftung waren es nur noch gut eineinhalb Kilometer; bei diesem Tempo musste er eigentlich schon vor acht Uhr ankommen. Noch zu früh, um herumzutelefonieren und etwas über Gabriellas Verbleib in Erfahrung zu bringen.
Am West Drive, unweit des zum Gedenken an John Lennon angelegten Strawberry Fields Memorials, wandte er sich nach rechts und folgte dem Reitweg in einen wenig frequentierten Bereich des Parks, der ziemlich verwaist dalag. Auf Reiter traf man hier eher selten, erst recht an einem normalen Werktag. Wenn es die Zeit erlaubte, nahm Josh aber gern diesen Umweg in Kauf, führte er ihn doch am Riftstone Arch vorbei.
Mitte des 19. Jahrhunderts, als der Landschaftsarchitekt Frederick Law Olmsted aus einem wuchernden Urwald den Central Park entwarf und gestaltete, hatte er zahlreiche Architekten auf sein Projekt angesetzt. Einer von ihnen, Calvert Vaux, baute im Jahre 1862 die Riftstone-Bogenbrücke aus dem heimischen Manhattan-Schiefer. Damit schuf er einen der wenigen Fußgängerüberwege des Parks, der einem Naturbogen noch am nächsten kam. Mächtige Felsvorsprünge, hohe Bäume und verwildertes Strauch- und Buschwerk verdeckten die
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