Der Memory Code
hatten sich sechs weitere Gäste an der Bar niedergelassen. Der Barkeeper servierte Rachel den Whisky mit exakt den zwei verlangten Eiswürfeln und wandte sich dann – eher widerwillig, wie es schien – den Neuankömmlingen zu.
Direkt neben Rachel unterhielt sich ein Pärchen über einen Artikel, der in der Sonntagsausausgabe der
New York Times
erscheinen würde. Ganz offensichtlich handelte es sich bei den beiden um Kuratoren.
“Haben Sie schon gehört? Heute ist Rudolfo beerdigt worden.”
“Das ist eine Tragödie.”
“Weiß man denn noch immer nicht, was gestohlen wurde?”
“Nein. Angeblich sollen heidnische Objekte gefunden worden sein, die von ziemlicher Bedeutung sein könnten. Aber das sind nur Gerüchte.”
“Mehr ist nicht bekannt?”, fragte die Frau.
“Nein. Aber in seinem letzten Zeitungsinterview wurde Rudolfo gefragt, ob die Funde wirklich eine Herausforderung für fundamentale Aspekte des christlichen Glaubens darstellen. ‘Das wollen wir doch nicht hoffen! Ich bin ein sehr religiöser Mensch’, war seine Antwort.”
Schmuckfunde waren bei archäologischen Grabungen gang und gäbe, und Rachel hatte sich bei ihrer Arbeit häufig von römischen, griechischen oder ägyptischen Funden inspirieren lassen. Doch jedes Mal, wenn sie von diesem Professor Rudolfo und seinem angeblichen Schatz hörte oder las, ging etwas ganz Merkwürdiges mit ihr vor. Beinahe so, als müsse sie sich die besagten Kleinodien um jeden Preis ansehen.
Von einem plötzlichen Schwindel erfasst, klammerte sie sich am Tresen fest. Was die zwei Kuratoren da eben gesagt hatten, traf einen Nerv in ihr. Sie merkte, wie erneut jenes summende Geräusch einsetzte, wie ihr Körper ins Schwingen geriet. Als sie die Augen schloss, nahm sie ein Schillern in allen Farben wahr. Nein, sie durfte sich nicht gehen lassen, nicht hier, nicht jetzt! Mühsam zwang sie die Lider auf und schaute sich um, bemüht, ihr Gleichgewicht wiederzufinden.
Geh besser, bevor es zu spät ist!
, mahnte sie sich.
Zu spät wofür?
Das war doch verrückt!
Als sie an ihrem Whisky nippte, hörte sie das Klimpern der Eiswürfel an dem Kristallglas. Wieso klang das so bedrohlich? Der Scotch brannte ihr etwas hinten in der Kehle; der zweite Schluck rann schon glatter hinunter. Während sie ihr Glas zum dritten Mal an die Lippen führte, überflog sie die versammelte Menge, bis ihr Blick auf dem Mann verhielt, der vorhin an der Bar gestanden hatte und Rachel so bekannt vorgekommen war.
“Ah, da steckst du”, sagte da eine Stimme hinter ihr. Es war ihr Onkel Alex, der von hinten an sie herangetreten war und sie nun mit einem Kuss auf die Wange begrüßte. Er war Anfang sechzig, wirkte jedoch jünger. Makellos in Schale geworfen in Smoking und schwarzer Schleife, zeigte er nicht die geringsten Anzeichen von Jetlag oder Müdigkeit nach seiner jüngsten Geschäftsreise.
“Ich war mir nicht sicher, ob du’s noch schaffen würdest”, erwiderte sie.
“Na, die Eröffnung durfte ich mir doch nicht entgehen lassen”, betonte er herzlich und orderte dann beim Barkeeper denselben Drink wie seine Nichte.
Er war ein Mäzen des Museums und gehörte zudem zum Verwaltungsrat. An diesem Abend waren auch einige Exponate seiner Frau, einst eine leidenschaftliche Sammlerin von Tiffany-Schmuck, zu sehen. “Ach, das hätte Nancy gefallen”, bemerkte er mit einem leicht melancholischen Unterton, während er den Blick durch den Saal wandern ließ.
“Ja, das kann man wohl sagen.”
Beide nippten an ihren Drinks. “Hast du Davis schon gesehen?”, fragte Alex, die Stimme eine Spur rauchiger als sonst.
“Nein. Aber er wird mich bestimmt finden, früher oder später.”
“Und das findest du langweilig?”
“Klinge ich etwa angeödet?” Rachel lächelte krampfhaft, aber die Lustlosigkeit in ihrem Blick war unübersehbar.
“Allerdings, meine Liebe. Bist du es auch?”
“Möglich, aber ich werde es überleben.”
“Du könntest glatt eine von diesen Steinskulpturen sein”, sinnierte ihr Onkel laut. “Resistent gegen Verliebtheit. Bisher hat noch keiner deine Augen so zum Strahlen gebracht, wie das ein ungefasstes Prachtstück von einem Edelstein kann!”
“Zerbrich du dir bitte nicht meinen Kopf!”
“Eines Tages wirst du damit aufhören, an Traumprinzen zu glauben, und dich mit den Männern abfinden, denen du im wirklichen Leben begegnest. Du wirst akzeptieren müssen, dass kein Mensch vollkommen ist, und du wirst lernen, das Beste draus zu
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