Der Memory Code
erheiternde Bemerkung zu, denn der andere fing an zu lachen, während Gabriella die beiden unterdrückt als “Schweinebande” bezeichnete.
Josh benötigte keine Übersetzung. Er konnte sich denken, was der Uniformierte gesagt hatte.
“Sie erwähnten vorhin, Sie seien auch hier unten gewesen, als es passierte?”, fragte sie Josh, nachdem die Carabinieri sich verzogen hatten.
“Die ganze Zeit. Ging alles unheimlich schnell … ich konnte nicht mehr einschreiten. Dem Räuber nicht in den Arm fallen.”
Sie schaute Josh nicht mehr an, sondern blickte über seine Schulter hinweg, als nehme sie den Zustand der Kammer in Augenschein. Zum ersten Mal hatte er Gelegenheit, die Archäologin aus der Warte des Fotografen zu betrachten: schlanker Hals, schulterlanges, welliges Haar, volle Lippen, kräftige Statur. Das Faszinierende an dieser Frau, die sonst einfach nur hübsch gewesen wäre, war ihre Nase: leicht gebogen, eine Adlernase mit der Andeutung eines Höckers. Sie trug Jeans und ein weißes Hemd, die obersten zwei Knöpfe offen. Zu seiner Schande musste Josh sich gestehen, dass ihm mitten in diesem ganzen Chaos nicht unlieb gewesen wäre, wenn sie den dritten auch noch aufgeknöpft hätte.
“Und den Täter haben Sie auch gesehen, sagen Sie? Wer war es?”
“Ein Wachmann. Zumindest war er wie einer angezogen.”
“Haben Sie ein Foto von ihm gemacht?”
“Nein, es ging alles zu schnell. Ich wollte ja dem Professor zu Hilfe kommen … wenn ich’s nur geschafft hätte …”
Für einen Moment wirkte sie verdutzt. “Warum hat der Gangster denn nicht auch auf Sie geschossen?”
“Ich war dort drin.” Josh wies auf den Schacht, und schlagartig stürzte ein ganzer Schwall von Eindrücken auf ihn ein: wie er sich langsam durch die enge Röhre wand, das Gefühl des Tunnelbodens unter den Händen, der Panikanfall in der Enge, die Ahnung, dass etwas Schreckliches im Schwange war, der Drang, schnell wieder zum anderen Ende zu gelangen.
Er war verwirrt. Waren das frische Eindrücke von dem, was eine Stunde zuvor geschehen war? Oder handelte es sich um Fragmente aus seinen Gedankenfilmen?
Gabriella stemmte sich hoch und ging hinüber zu der Öffnung. Jetzt erst fiel ihr der Stollen auf. “Was ist das denn?” Sie spähte in den dunklen Eingang. “Wer hat den ausgegraben?”
“Ich.”
“Das hat Rudolfo Ihnen erlaubt? Auf seiner Ausgrabung?”
“Er hat zwar versucht, mich dran zu hindern, aber … deshalb konnte ich ihm ja später nicht zu Hilfe kommen. Ich steckte da drin, ziemlich weit hinten.”
“Verstehe ich nicht. Wieso hat er sie gewähren lassen? Wie kam er dazu?”
“Hören Sie, ich habe vorhin da oben in dem Tohuwabohu kein Wort verstanden. Ich erzähle Ihnen ganz genau, was passiert ist, aber bitte sagen Sie mir erst einmal, was der Notarzt zum Zustand von Professor Rudolfo gesagt hat. Wie schlimm steht es um ihn?”
“Das kann man erst im Krankenhaus beurteilen. Die Blutung war allerdings gestillt, und das ist ein gutes Zeichen. Wenn er durchkommt, hat er das Ihnen zu …” Sie verstummte, bückte sich und hob etwas vom Mosaikboden auf.
“Wieso ist das zerbrochen?” Ihre Stimme zitterte ebenso wie ihre Hand, in der sie ein Stück der zerschmetterten Holzschachtel hielt. “Wo ist der Rest davon?” Wieder auf den Knien liegend, tastete sie hektisch umher.
“Gabriella …” Josh ließ sich neben ihr nieder und legte ihr tröstend die Hand auf die Schulter, als müsse er sie für das Schlimme wappnen, das er ihr nun zu eröffnen hatte. Durch ihr Hemd fühlte er ihre warme Haut. “Der Wachmann hat den Inhalt der Schachtel mitgenommen. Ich vermute, nur darauf kam es ihm an. Nach meiner Einschätzung heißt das: Er hat das gestohlen, was Sie und Rudolfo möglicherweise für den Schatz der Erinnerung halten.”
Ihre Miene veränderte sich auf zweierlei Weise gleichzeitig – etwas, das Josh nach seinem Gefühl so noch nie erlebt hatte. Während in ihren Augen tiefe Niedergeschlagenheit stand, bildeten ihre Lippen einen verkniffenen Strich, der kalte Wut ausdrückte. Sie senkte den Blick auf die Holzstücke, die sie noch immer in den Händen hielt. Zwei Sekunden verstrichen. Fünf. Zehn. Schließlich hob sie den Kopf. Jeglicher Groll, jegliche tiefe Trauer waren aus ihrem Gesicht gewichen; verblieben war allein ein entschlossener Ausdruck. Ihre Unbeugsamkeit setzte Josh in Erstaunen.
“Wir haben keine Zeit für lange Reden”, betonte sie. “Es gibt zu viel zu tun. Die Carabinieri
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