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Der Menschenraeuber

Der Menschenraeuber

Titel: Der Menschenraeuber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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zu lassen.
    Jana konnte es, er nicht. Stundenlang lag sie mit geschlossenen Augen im warmen schaumigen Wasser und ließ den Whirlpool sprudeln. Und Jonathan machte sich Sorgen, dass sie einschlafen und in der Wanne ertrinken könnte.
    Die Situation war grotesk. Er fror in einem feuchten Bett in der winterlichen Toskana und wünschte sich nichts sehnlicher, als die Zeit noch einmal zurückdrehen und alles ungeschehen machen zu können, was vor vierundzwanzig Jahren in Berlin begonnen hatte.

DREI
    Berlin 1977

    Jonathan stand bescheiden neben dem Tisch mit den Getränken und fragte sich, ob er einen roten Kopf hatte, denn er hatte Schwierigkeiten, auf das Lob und die Gratulationen zu reagieren, die seit ungefähr einer halben Stunde auf ihn einprasselten. Nur eins war ihm klar: Er hatte es geschafft! Seine erste Vernissage als Fotograf war ein voller Erfolg.
    Ungefähr sechzig Leute drängten sich in der kleinen Galerie in der Grolmanstraße, drehten Sektgläser in ihren Händen und legten den Kopf schief, als könnten sie die Bilder so besser betrachten, nickten, murmelten leise Kommentare, lächelten und gingen ein paar Schritte weiter zum nächsten Foto.
    Vor einem knappen Jahr hatte Jonathan neben seiner Arbeit als Theaterfotograf damit begonnen, eine Fotoreihe zum Thema »Leben im Sturm« zu entwickeln. Menschen im Wind, zerzauste Landschaften, Wellenberge, Dinge, die durch die Luft flogen – alles in Bewegung oder außer Kontrolle. Die Fotos hatte er als »Ausgangspunkt« ins Zentrum seiner Bilder gestellt und sie dann mit realistischer Malerei weitergeführt, verfremdet, vervollkommnet oder entstellt. Dadurch waren faszinierende Werke entstanden, die die Sicht auf die Dinge veränderten und eine völlig neue Betrachtung ermöglichten.
    Und inmitten seiner Foto-Malerei-Collagen immer wieder Jana. Sie war sein Thema, seine Muse, verkörperte die perfekte Leichtigkeit in der Bewegung. Er zeigte, wie sie sprang, sich in der Luft drehte oder am Ende eines wilden Tanzes in sich zusammenfiel, als würde sie auf dem Bühnenboden zerfließen. Jana war stürmisch und kraftvoll, ihr Tanz war wie eine Explosion, seine mutigen Zeichnungen unterstrichen dies und gaben der Momentaufnahme ihres Tanzes eine Dimension weit über den Bildrand hinaus.
    Während sich die Galerie immer mehr füllte, wurde Jonathan immer nervöser. Sie war noch nicht da, obwohl sie fest versprochen hatte, spätestens um neun hier zu sein. Nach der Probe wollte sie nur kurz nach Hause, duschen, sich umziehen und dann so schnell wie möglich kommen. Sie wusste, wie wichtig ihm der Abend und seine erste Ausstellung war, und sie wusste auch, dass ihm das alles nichts bedeutete, wenn sie nicht dabei war.
    Jetzt war es halb zehn, und sie war immer noch nicht da.
    Gerade als er unzählige Male »bitte entschuldigen Sie mich einen Moment« gesagt hatte und murmelnd versuchte, sich bis ins Büro durchzukämpfen, um sie anzurufen, sah er sie kommen.
    Sie sah fantastisch aus, trug ein fließendes champagnerfarbenes Kleid, das, obwohl es nicht eng anlag, ihren schmalen Körper perfekt betonte. Aber sie wirkte ungewohnt ernst, und das Lächeln fiel ihr schwer, als sie Jonathan und die ersten Gäste begrüßte.
    »Ist irgendetwas?«, fragte er sie flüsternd.
    An der Art, wie sie den Kopf schüttelte, sah er deutlich, dass doch etwas war, aber er fragte nicht weiter. Hier zwischen all den Menschen würde sie ihm ohnehin nichts erzählen.
    »Sehr verehrte Frau Jessen«, sagte ein grauhaariger, übergewichtiger Mann zu Jana, den Jonathan schon ein paarmal gesehen hatte, aber dessen Namen er nicht wusste, »ich habe Sie als ›Giselle‹ gesehen, bei Ihrer letzten Premiere, Sie waren einfach göttlich! So eine hervorragende Primaballerina hatte die Deutsche Oper noch nie! Entschuldigen Sie, dass ich das so sage, aber ich verehre Sie und werde von nun an keine Ihrer Premieren verpassen. Und dass Ihr Mann Sie fotografiert und in den Themenkreis ›Sturm‹ eingearbeitet hat, ist einfach großartig! Mein Kompliment!« Er verneigte sich, und obwohl Jonathan direkt daneben stand, hatte er nur zu Jana gesprochen.
    Normalerweise war Jana an solche Komplimente gewöhnt und konnte sie genießen, an diesem Abend wirkte sie jedoch, als sei sie nicht ganz bei der Sache. Sie bedankte sich knapp, aber nicht unhöflich, und wollte sich abwenden, als ihr Bewunderer sagte:
    »Ach … eine Bitte habe ich noch.« Hektisch riss er das Packpapier von einem Bild, das er die ganze Zeit

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