Der Menschenraeuber
gewesen war.
Nach zehn Minuten hatte er das Bier schon fast ausgetrunken. Jana kam nicht. Dass sie einfach so ohne ein Wort ins Bett gegangen war, konnte er sich nicht vorstellen. Das tat sie nur nach einem Streit, aber doch nicht heute, nach seiner ersten Vernissage.
Er ging nach oben und rief schon auf der Treppe: »Jana, wo bleibst du denn? Kommst du nicht in die Küche?«
Sie antwortete nicht.
Er öffnete die Tür zum Schlafzimmer – aber das Zimmer war dunkel und das Bett unberührt.
Plötzlich hörte er ein leises Schluchzen und riss die Badezimmertür auf.
Sie saß auf dem geschlossenen Toilettendeckel und weinte.
»Was ist los?« Er stürzte auf sie zu und nahm sie in den Arm. »Was hast du? Was ist passiert? Bist du krank?«
Sie schüttelte den Kopf. Dann riss sie sich mehrere Lagen Toilettenpapier ab und putzte sich die Nase.
»Scheiße, Jon«, schluchzte sie. »Verdammte Scheiße, ich bin schwanger.«
Einen Moment verschlug es ihm die Sprache. Dann murmelte er: »Wie konnte denn das passieren? Wir haben doch immer aufgepasst!«
»Keine Ahnung. Ist ja jetzt auch egal.«
»Komm.« Er zog sie hoch, legte den Arm um sie und führte sie hinunter in die Küche. Jana setzte sich.
»Was möchtest du trinken?«
»Wasser mit ein bisschen Zitrone.«
Jonathan nahm die Wasserf lasche aus dem Kühlschrank. Während er die Zitrone ins Wasser spritzte, sagte Jana: »Das ist eine Katastrophe, Jon. Wenn ich das Kind kriege, kann ich die Giselle hier in Berlin und meinen Gastvertrag in Wien in den Wind schreiben. Vielleicht meine letzte große Chance. Ich bin ja keine zwanzig mehr.«
»Ich weiß.«
»Jetzt läuft es gerade rund. So wie ich es mir immer erträumt hatte. Plötzlich gehen alle Türen auf, und ich hätte noch fünf bis sieben Jahre als Primaballerina. Aber nicht, wenn ich jetzt unterbreche, dick und fett und unbeweglich werde. Dann bin ich raus.«
»Ich weiß.« Jonathan war plötzlich sehr müde.
»Nein, ich glaube nicht, dass du weißt, wie ich mich fühle.«
Jonathan schwieg. Er hatte keine Lust, sich zu rechtfertigen, ihr zu erklären, dass er sehr wohl wusste, wie sie sich fühlte, welche Ängste um ihre Karriere sie ausstand und wie durcheinander sie war. Er wollte nicht mit ihr streiten, und es kam ihm zu banal vor, ihr zu erklären, dass er sich kein größeres Glück vorstellen konnte als ein Kind. Er war wütend, dass sie ihm die Freude nicht ließ, dass sie zweifelte und ihm Angst machte.
Aber er wusste, dass er in dieser Situation nichts sagen konnte und nichts sagen durfte. Er musste ihr Zeit lassen. Morgen würde er mit ihr reden. Wenn sie den ersten Schock überwunden hatte.
»Du sagst ja gar nichts mehr«, bemerkte sie nach einer Weile und fuhr nachdenklich mit dem Zeigefinger um den Rand einer Tasse, die noch vom Frühstück auf dem Tisch stand, als wolle sie sie zum Klingen bringen.
»Ich bin genauso überrascht wie du«, flüsterte er, »aber das ist eine wundervolle Nachricht. Eine schönere gibt es nicht.«
Jana starrte ihn an, und ihre dunklen Augen wirkten fast schwarz. Dann sprang sie auf.
»Ich wusste es«, schrie sie, »du begreifst nichts! Gar nichts!«
Sie rannte aus der Küche und warf die Tür hinter sich zu.
Jonathan legte den Kopf auf seinen Arm und fürchtete sich davor, ins Bett zu gehen.
Zwei Tage später tanzte sie wieder die »Giselle«, und Jonathan saß in der Dienstloge und sah ihr zu. Sie war eine Schönheit. Gertenschlank und so beweglich, dass es ihm immer wieder den Atem nahm. Er spürte bis in die Loge, dass der Tanz ihr Leben war, und als sie die unglücklich Liebende tänzerisch ausdrückte, wusste er, dass sie noch nie so deutlich gefühlt hatte, was sie auf der Bühne darstellte.
»Du warst wunderbar«, sagte er nach der Vorstellung zu ihr. »So gut wie heute hast du noch nie getanzt.«
Sie gingen nicht mehr in die Kantine, Jana wollte sofort nach Hause.
»Wir müssen reden, Jon«, sagte sie im Auto, »ich habe jetzt zwei Tage und zwei Nächte vor mich hin gebrütet, aber ich komme allein nicht weiter. Ich weiß einfach nicht, was ich will oder was ich nicht will, ich weiß auch nicht, was richtig oder falsch ist, ich weiß gar nichts mehr. Und wenn ich denke, einen Weg gefunden zu haben, schmeiße ich eine halbe Stunde später alles wieder über den Haufen. Du kennst mich. Ich kann mich ja noch nicht mal bei alltäglichen, unwichtigen Dingen entscheiden, bei so einer schwierigen existenziellen Frage bin ich völlig
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