Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Menschenraeuber

Der Menschenraeuber

Titel: Der Menschenraeuber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
Vom Netzwerk:
aufgeschmissen. Hilf mir, Jon. Sonst werde ich verrückt.«
    Jonathan fuhr langsamer als gewöhnlich. »Es gibt im Grunde nur zwei Möglichkeiten«, meinte er vorsichtig, »du bekommst es, oder du lässt es wegmachen. Dazwischen gibt es nichts. Ein Kompromiss ist unmöglich.«
    »Großartig«, spottete sie, »du wirst es nicht glauben, aber so weit war ich auch schon.«
    Jonathan fürchtete, sie noch mehr zu verärgern, und sagte nichts mehr, bis sie in die Garage ihres Hauses fuhren.
    Im Wohnzimmer machte er ihr ein warmes Fußbad.
    Sie saß mit geschlossenen Augen im Sessel und genoss diesen Moment der totalen Entspannung.
    »Rede mit mir«, meinte sie schleppend, »sag mir alles, was dir durch den Kopf geht. Auch wenn du dich wiederholst. Egal. Mein Kopf ist so leer, dass ich das Gefühl habe, überhaupt nicht mehr denken zu können.«
    Jonathan konnte sich nicht erinnern, schon jemals in einer so komplizierten Situation gewesen zu sein.
    »Jana«, begann er leise, »du weißt, dass ich ein hoffnungsloser Fatalist bin. Und so sehe ich auch das, was hier gerade mit uns passiert. Wir haben das Kind nicht gewollt«, er stockte, weil er die Formulierung äußerst unglücklich fand, aber Jana schien sich daran nicht zu stören. Also sprach er weiter: »Ich meine, wir haben es nicht darauf angelegt, eins zu bekommen, weil wir noch warten wollten.«
    »Darüber haben wir nie gesprochen.«
    »Nein. Weil es irgendwie klar war. Auch ohne dass wir es so deutlich aussprechen mussten. Weil deine als auch meine Karriere gerade dabei ist, loszugaloppieren.«
    Jana seufzte.
    »Aber es ist nun mal passiert. Und darum denke ich, es soll so sein. Wir sollen dieses Kind bekommen, wir sollen mit ihm leben! Keine Ahnung warum, aber das können wir uns vielleicht in fünf oder zehn, vielleicht auch erst in zwanzig oder dreißig Jahren beantworten. Dann wissen wir, warum es gut und richtig war, jetzt dieses Kind zu bekommen. Wahrscheinlich soll es uns verändern, unser Leben in eine andere Richtung lenken.«
    »Ich will in keine andere Richtung gelenkt werden, Jon! Ich will tanzen! Die paar Jahre, die ich noch habe. Kinder kann ich auch mit fünfunddreißig noch bekommen.«
    »Es passt nie, Jana. Es ist immer der falsche Zeitpunkt.«
    »Für dich nicht. Dich tangiert es überhaupt nicht. Aber mich. Ich bin raus. Ich habe mich all die Jahre umsonst abgestrampelt und bis zum Umfallen trainiert. Ich habe geprobt und getanzt wie eine Verrückte und hinter der Bühne gekotzt, weil ich einfach nicht mehr konnte. Und niemals eine Tafel Schokolade, kein Gänsebraten zu Weihnachten, keine Bratwurst auf dem Markt und keine Tagliatelle beim Italiener. Immer nur Nein sagen, verzichten und tanzen. Um neun Uhr früh Probe im Ballettsaal, und wehe, wenn du am Abend vorher ein Glas Wein getrunken hast!«
    »Ich weiß, Jana, ich weiß …«
    »Und dann hast du es geschafft. In Berlin! Ich bin die Primaballerina an der Deutschen Oper und zu dämlich zum Verhüten, verdammte Scheiße! Ich bin so bekloppt, mir alles selbst zu vermasseln, jetzt, wo ich auf dem absoluten Höhepunkt bin und alles erreicht habe, was ich niemals zu träumen gewagt habe!«
    Jana schossen die Tränen in die Augen, aber sie weinte nicht, sondern wischte sich mit dem Ärmel über die Nase und schniefte nur.
    »Alles, was du sagst, ist richtig«, flüsterte Jonathan, »deine Situation kenne ich wahrscheinlich besser als jeder andere auf der Welt, und bitte: Glaube mir, dass ich mir gut vorstellen kann, wie du dich fühlst. Aber trotzdem …«
    »Was trotzdem ?«
    »Trotzdem bitte ich dich, Jana, bekomm dieses Kind! Es ist doch schon da! Wir können nicht einfach so tun, als wäre da nichts! Bitte, bitte, bitte! Ich werde mich drum kümmern, damit du hinterher vielleicht doch wieder einsteigen kannst. Es müsste eigentlich das Normalste von der Welt sein, dass auch eine Primaballerina schwanger wird! Ich werde alles tun, um dir den Rücken freizuhalten, das verspreche ich dir! Bitte, Jana!«
    Er ging zu ihr, kniete sich vor sie und vergrub seinen Kopf in ihrem Schoß.
    Jana strich ihm sanft übers Haar. Dann drückte sie seinen Kopf zur Seite, trocknete ihre Füße ab und ging zur Tür.
    »Ich bin müde«, sagte sie.
     
    Grand jeté. Als sie absprang, spürte sie schon, dass sie weniger Kraft hatte als üblich und sicher nicht so hoch kommen würde wie gewöhnlich. Hinterher fand sie es unfassbar und faszinierend zugleich, wie viele Gedanken ihr im Bruchteil einer Sekunde durch den

Weitere Kostenlose Bücher