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Der Menschenraeuber

Der Menschenraeuber

Titel: Der Menschenraeuber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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angerufen.«
    »Doch«, warf Leonie ein, »sie hat Ingrid Bescheid gesagt. Ingrid wollte auch herkommen, aber ich hab sie gebeten, unter diesen Umständen zu Hause zu bleiben.«
    »Wer ist Ingrid?«
    »Die beste Freundin meiner Eltern. Ihr Mann ist im vergangenen Sommer bei einem Unfall in Italien ums Leben gekommen.«
    Wittek machte sich eine Notiz, aber die verwitwete und trauernde Freundin der Familie brachte ihn auf keinen Fall weiter.
    »Vielleicht ist der Täter der Freund einer Krankenschwester?«, überlegte Tobias. »Sie hat ihn angerufen, hat erzählt, dass Lisa-Marie geboren ist, hat ihm den vollen Namen genannt, und dann ist er als Dr. Werner aufgetreten.«
    »Das ist möglich. Aber ich habe alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Säuglingsstation überprüft. Da ist niemand dabei, der sich sehnlichst ein Kind wünscht und selbst keins bekommen kann. Ich habe auch alle zu Hause aufgesucht. Das hat nichts gebracht. Nein – die undichte Stelle muss irgendwo anders sein.«
    Wittek stand auf und ging ein paar Schritte im Zimmer auf und ab. Er konnte im Sessel nicht denken. »Und die zweite Frage ist das Motiv, gerade Ihr Baby zu stehlen. Haben Sie Feinde? Neider oder Konkurrenten im Beruf? Mit welchen Fällen haben Sie sich in der letzten Zeit beschäftigt? Oder womit beschäftigen Sie sich im Augenblick? Hatten Sie mit der Mafia zu tun? Könnte es sein, dass sich irgendjemand an Ihnen rächen will?«
    »Nein«, sagte Tobias sehr bestimmt. »Das halte ich für völlig unwahrscheinlich. Und mit der Mafia oder ähnlichen Organisationen hatte ich noch nie Kontakt.«
    »Na gut. – Aber haben Sie vielleicht in Ihrem persönlichen Umfeld jemanden, der unter Kinderlosigkeit leidet? Bitte, denken Sie nach: Gibt es in Ihrer Vergangenheit irgendetwas, was schiefgelaufen ist? Eine alte Geschichte vielleicht, die man innerlich längst abgehakt hat? Oder eine Rechnung mit einem alten Freund oder Feind, die noch offen ist? Eine Kleinigkeit, die Sie vielleicht schon vergessen haben, könnte die Querverbindung zum Motiv sein. Wir müssen in Ihrem privaten und beruflichen Umfeld und in Ihrer Vergangenheit graben, nur so kommen wir dem Täter auf die Spur. Glauben Sie mir. Nur so. Das ist unsere einzige Chance.«
    Er hatte ewig nicht mehr daran gedacht. Jetzt schoss ihm der Gedanke beinah schmerzhaft in den Kopf. Der Unfall. Das war der einzige schwarze Fleck in seinem Leben. Leonie wusste nichts davon, er hatte nie mit ihr darüber gesprochen, und auch seine Eltern hatten in ihrer Gegenwart nie über diese unangenehme Geschichte geredet. Vielleicht würde er ihr irgendwann alles erzählen, aber sicher nicht jetzt, nicht in dieser Situation. Sie würde die Tatsache, dass er den Unfall ihr gegenüber jahrelang verschwiegen hatte, als Vertrauensbruch interpretieren. Und außerdem konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen, was der Unfall mit seiner kleinen Tochter zu tun haben könnte. Da gab es keine offene Rechnung mehr. Er war vor Gericht gestellt worden und hatte seine Strafe bekommen. Eine geringe zwar, aber immerhin. Er hatte sich entschuldigt, die Sache war erledigt. Seine Jugendsünde war jetzt zehn Jahre her, das eine hatte mit dem anderen nichts zu tun, das alte Kapitel war abgeschlossen und längst Vergangenheit.
    »Nein«, sagte Tobias entschlossen, »nein, da gibt es absolut nichts. Glauben Sie mir, ich hab mir auch schon den Kopf zerbrochen, bin Fotoalben und alte Adressbücher durchgegangen und habe überlegt, wer so eine Wut auf mich haben könnte, dass er mir mein Kind wegnimmt, wer eventuell Rachegefühle haben könnte – aber da ist mir absolut niemand eingefallen. Wir haben keine Feinde. Auch nicht im beruflichen Umfeld.«
    »Mir geht es genauso«, ergänzte Leonie. »Ich lebe mit niemandem im Streit.«
    Es war zum Verzweifeln. Wittek hatte fest damit gerechnet, dass die beiden ihm irgendeine vergangene Geschichte erzählen würden, die nicht so glatt gelaufen war. Die beiden führten eine Bilderbuchehe. Das war ja nicht normal. Zwei schöne Menschen, gebildet, charmant, intelligent, sie liebten sich, es gab keinen Streit, keine Konflikte, sie hatten ein schönes Haus, Erfolg im Beruf, ein gesundes Kind …, nicht zum Aushalten. Und in diese heile Welt platzte ein Irrer, der unbedingt das Leben dieser Familie zerstören wollte. Dieser Irre musste einen guten Grund haben. Einen sehr guten Grund. Und tief in seinem Inneren wusste das einer von beiden.
    Er hatte keine Chance. Solange Tobias und

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