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Der Menschenraeuber

Der Menschenraeuber

Titel: Der Menschenraeuber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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hinauswollte. »Wir haben jahrelang unter dem Tod unserer Tochter gelitten, aber die Rechnung ist beglichen. Es ist vorbei. Mein Gott, es sind zehn Jahre vergangen! Das ist eine lange Zeit. Tobias Altmann kam vor Gericht und wurde bestraft. Wir haben ihn mittlerweile vergessen.«
    »Ich würde mich gern auch mit Ihrem Mann unterhalten, Frau Jessen.«
    »Mit meinem geschiedenen Mann.«
    »Ja, richtig. Wissen Sie, wie ich ihn erreichen kann?«
    »Nein. Ich kann ihn ja selbst nicht erreichen. Was ich auch gar nicht will – aber selbst wenn ich es wollte, ich weiß nicht, wo er ist und wo er wohnt.«
    Natürlich, dachte Hinz, es ist doch immer dieselbe Scheiße. Irgendeiner, und meistens das wichtigste Glied in der Kette, ist unauffindbar und verschollen. Es macht alles keinen Spaß!
    »Ich verstehe nicht«, fragte er höflich.
    »Wir haben uns vor sechs Jahren scheiden lassen. Mein Mann ist nach Italien gegangen, aber ich weiß nicht, wohin. Er hat mir die Adresse nicht sagen wollen. Meines Wissens hat er auch wieder geheiratet. Eine Italienerin. Und so weiß ich noch nicht mal, wie er jetzt heißt. Denn ich bin ziemlich sicher, dass er seinen Namen nicht behalten hat. Wenn mein Mann etwas macht, macht er es richtig.«
    »Er hat also bewusst alle Brücken nach Deutschland abgebrochen und ist hier auch nicht mehr gemeldet?«
    »Genauso ist es. Drei Jahre nach Giselles Tod ist er nur mit einem Koffer und ein paar Mark in der Tasche abgehauen und hat sich in Italien eine neue Existenz aufgebaut. Fragen Sie mich nicht, wie er das geschafft hat. Mir hat er nie etwas davon erzählt. Er war dann nur noch einmal zum Scheidungstermin in Deutschland. Wir haben uns finanziell geeinigt, ich bekam das Haus und habe ihn ausgezahlt, und dann habe ich ihn nie wiedergesehen.«
    Na, dachte Hinz, den finde ich nie.
    »Hat er ein Handy?«, fragte Hinz.
    »Ja, natürlich. Vor unserer Scheidung haben wir noch hin und wieder telefoniert.«
    »Rufen Sie doch mal an! Vielleicht gilt die Nummer noch?«
    Jana suchte in ihrem Filofax die Nummer und wählte. »Die Nummer existiert nicht mehr«, sagte eine freundliche, blecherne Computerstimme.
    »Sehen Sie? Wer keinen Kontakt mehr mit seiner Vergangenheit haben will, ändert natürlich auch seine Handynummer.«
    Hinz nickte. Aber einen Versuch war es wert gewesen.
    »Was machte Ihr Mann beruflich?«
    »Er war Fotograf und Eventmanager. Tja, er hatte richtig Karriere gemacht, aber das war ihm wohl alles nichts wert.«
    »Warum ist er gegangen? Ging es um eine andere Frau?«
    »Nein!« Jana lachte. »Vielleicht wäre das sogar einfacher gewesen. Nein, es war alles wegen Giselle. Er kam mit seiner Trauer nicht zurecht, kam über ihren Tod nicht hinweg und war unfähig, in einer Umgebung weiterzuleben, in der alles an sie erinnerte. Auch ich habe ihn jeden Tag an sie erinnert. Und da ist er irgendwann gegangen. Regelrecht geflohen eigentlich.«
    Aha. Daher also diese fantastischen Fotografien überall. Allmählich verstand Hinz die Situation. Wer diese wunderschöne Frau, seine Karriere, dieses luxuriöse Haus und überhaupt ein Leben, von dem die meisten nur träumen konnten, in den Wind schoss, um in einer kargen Hütte und mit drei Olivenbäumen noch einmal von vorne anzufangen, der konnte nicht ganz bei Sinnen sein, oder er war krank vor Liebe zu seiner Tochter. Und wahnsinnig geworden nach deren Tod.
    Er musste Jonathan Jessen finden. Das war ihm klar, als er Janas Haus verließ. Das Einzige, was er von ihr erbeten hatte, war ein Foto von Jonathan, wie er vor zehn Jahren ausgesehen hatte. Es war nicht viel wert, wahrscheinlich hatte er sich so verändert, dass er nicht mehr wiederzuerkennen war, aber es war ein Anfang. Er hatte ja sonst nichts und kaum Hoffnung, Jonathan jemals ausfindig zu machen.

ZWEIUNDVIERZIG
    Vielleicht gab es Menschen, die erst nach Jahren resignierten. Oder die Hoffnung nie aufgaben. Sie aber war nicht so dumm, an etwas Unmögliches zu glauben und ihr Leben damit zu verbringen, vierundzwanzig Stunden am Tag zu warten. Darauf, dass das Telefon klingelte oder die Polizei vor der Tür stand und die Erlösung brachte. Eben darauf, dass das Wunder geschah und ihr eine freundliche alte Dame vom Roten Kreuz ein in eine flauschige Decke eingewickeltes Baby in den Arm legte.
    Oder vielleicht darauf, dass eine engagierte angehende Kriminalbeamtin auf ein Baby deutete, das mittlerweile völlig anders aussah als die Lisa-Marie, die sie geboren hatte, und sagte: »Das ist sie. Ihre

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