Der Menschenraeuber
Tochter. Wir haben sie in einem Abbruchhaus gefunden. Inmitten von Obdachlosen. Ein Mann hatte sie für seine sechsundvierzigjährige drogenabhängige Lebensgefährtin gestohlen. Sie ist wohlauf, aber was ihr am meisten fehlt, ist ein Bad. Freuen Sie sich?«
Nein, so naiv war sie nicht. Sie hatte die Hoffnung aufgegeben und wartete schon lange nicht mehr. Lisa-Marie würde sie nie wieder im Arm halten.
Als sie erwachte, brauchte sie zehn Sekunden, bis ihr wieder einfiel, dass heute ein besonderer Tag war. Die Qual war vorbei, es mussten nur noch einige Dinge geregelt werden.
Sie stand auf, fuhr sich einmal kurz mit beiden Händen durch die lockigen Haare, zog sich ihren Bademantel an und ging in die Küche.
Tobias stand am Fenster. Es regnete. Nicht übermäßig stark, aber anhaltend. Ein düsterer, ungemütlicher Tag. Er sah hinaus und hielt in der linken Hand eine Scheibe Toastbrot mit Honig, in der rechten einen großen, bauchigen Becher Milchkaffee. Als er sie kommen hörte, drehte er sich um und lächelte.
»Guten Morgen, Liebes!«
»Guten Morgen.« Sie lächelte zaghaft, ging zur Kaffeemaschine und schenkte sich eine Tasse halbvoll.
»Wie geht es dir?«, fragte er.
»Einigermaßen.«
»Und wie hast du geschlafen?«
»Gut.«
»Was hast du heute vor?«
»Ich weiß noch nicht.«
»Vielleicht solltest du mal wieder den Verlag anrufen. Ein bisschen Arbeit wäre doch nicht schlecht, oder? Ich denke, das würde dich ein wenig ablenken.«
»Ja, du hast Recht«, meinte sie lustlos. »Und du?«
»Ich fahre in die Kanzlei, aber spätestens um achtzehn Uhr bin ich zurück. Ich beeile mich. Soll ich irgendwas zum Abendessen besorgen?«
Leonie schüttelte den Kopf. »Wir haben genug.«
Tobias öffnete kommentarlos den Kühlschrank. Bis auf einen halben Salatkopf, zwei Tomaten, eine Packung Schnittkäse und ein Glas Gurken, das schon wochenlang offen sein musste, denn im Gurkenwasser schwammen Schlieren, herrschte gähnende Leere. Aber er sagte nichts. Würde sie einfach überraschen und etwas mitbringen. Vielleicht Sushi oder Scampi, die sie so sehr liebte.
Mittlerweile hatte Tobias seinen Job in Asien gekündigt. Er wollte bei Leonie sein, spürte, dass es nicht gut war, sie jetzt allein zu lassen. Aber er konnte es auch nicht verhindern, wenigstens ein paar Stunden am Tag in die Kanzlei zu gehen.
»Wie fühlst du dich?«, fragte er vorsichtig.
»Gut. Ja, ja, doch, gut. Alles bestens.«
Am Wochenende waren Henning und Hella abgereist. Sie riefen zwar zwei-oder dreimal am Tag an, trotzdem war Leonie lange allein. Zu lange. Und Tobias hatte Angst um sie.
Er schob sich den Rest seines Toasts in den Mund, spülte ihn mit dem letzten Schluck Kaffee hinunter, küsste sie auf den Mund und ging.
»Mach’s gut«, sagte er, »bis nachher.«
»Ja, bis nachher.« Ihre Lippen formten noch ein ›Ich liebe dich‹, aber sie blieb stumm, und er bekam es nicht mit.
Als er gegangen war, schossen ihr die Tränen in die Augen. Aber sie wischte sie schnell mit dem Ärmel ihres Bademantels weg und ging ins Bad.
Eine halbe Stunde später trug sie Jeans und Pullover, hatte ihre Haare mit einer großen Spange am Hinterkopf zusammengesteckt und machte sich an die Arbeit. Sie war nie ein Mensch gewesen, der gern geputzt hatte, und tat es nur, wenn es unbedingt sein musste.
Heute war alles anders. Heute sollte es perfekt sein.
Sie saugte und wischte die Fußböden, entstaubte die Möbel und sogar die Bücher in der Bibliothek, was sie seit ihrem Einzug in das Haus in Buchholz noch nie getan hatte, putzte Bad und Küche und anschließend sämtliche Fenster, obwohl der Februarregen unaufhörlich gegen die Scheiben nieselte. Sie bezog die Betten neu und steckte die alte Bettwäsche in die Waschmaschine, räumte herumliegende Zeitungen weg und fegte sogar die Blätter von der Terrasse, obwohl in den nächsten drei Monaten sicher niemand dort sitzen würde.
Sie tat, was sie tun konnte.
Um halb drei war sie fertig. Das Haus war so ordentlich und sauber wie schon lange nicht mehr. Als Letztes trank sie ein Glas Mineralwasser, spülte das Glas aus, trocknete es ab und stellte es zurück in den Schrank. Dann legte sie einen Zettel auf den Küchentisch, darauf stand »Ich liebe dich«. Der Satz, den sie am Morgen nicht herausgebracht hatte.
Es war genug. Mehr hatte sie nicht zu sagen.
Tobias hatte an diesem Tag zwei Klientengespräche, aber er konnte sich nicht konzentrieren und hörte bei der Schilderung der Fälle nur
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