Der Menschenraeuber
und begeistert Bananenbrei in sich hineinstopfte.
Er klebte den Umschlag zu, beschriftete ihn mit Tobias’ und Leonies Adresse in Buchholz und ließ den Absender weg. Dann frankierte er ihn und legte ihn auf die Kommode in der Diele, dorthin, wo neben seinen Autoschlüsseln immer die Post lag, die nach Ambra gebracht werden musste. Diesen Brief wollte er morgen allerdings in Florenz einstecken, da er zu IKEA fahren musste, um Teelichter, Schwimmkerzen, Fackeln, Tischdecken und neue Gläser zu kaufen. Aber noch wichtiger war auf jeden Fall zu vermeiden, dass auf dem Poststempel »Ambra« zu lesen war.
GANZ PRIMA! , sagte die Stimme, und Jonathan musste grinsen.
Als er kurz darauf im Sessel saß, sich ein Glas Wasser einschenkte und darüber nachdachte, was er im Begriff war zu tun, waren seine Gefühle zerrissen. Es war schon fantastisch, sich vorzustellen, wie Tobias stöhnte, schrie oder weinte, wenn er den Brief öffnete, den Text las und dazu die Bilder betrachtete. Noch schlimmer würde es Leonie treffen, denn sie hatte ihr Kind ja zumindest ein paar Stunden im Arm gehabt, Tobias dagegen kannte es gar nicht. Als er aus New York zurückkam, war es schon weg gewesen. Tobias hatte diesen Verlust also sicher wesentlich leichter verschmerzen können als seine Frau, die Wunde war wahrscheinlich schon verheilt, und das durfte nicht sein. Jonathan wollte, dass sie wieder aufplatzte, er wollte Salz hineinstreuen und hoffte, dass Tobias nie mehr Ruhe fand. Er wollte ihn mit klugen Sprüchen und Bildern von Danielas Entwicklung bombardieren, bis es Tobias und Leonie das Herz zerriss. Sie sollten nachts von nichts anderem träumen als von ihrem Kind, das eine glückliche Kindheit erlebte, irgendwo auf dieser Welt, aber nicht bei ihnen.
Als er daran dachte, lächelte er äußerst zufrieden, aber gleichzeitig wurde ihm klar, dass er ein sehr hohes Risiko einging und die Sicherheit seiner Familie aufs Spiel setzte. Vielleicht war es doch ein Fehler, überhaupt Kontakt zu Tobias aufzunehmen.
Eine diffuse Angst breitete sich in ihm aus, die jedoch nicht so stark war wie die Freude, die es ihm machte, Tobias in Gedanken leiden zu sehen.
Egal. Er hatte noch eine ganze Nacht Zeit, sich darüber klarzuwerden, ob es richtig oder falsch war, den Brief abzuschicken. Morgen früh um zehn, wenn er nach Florenz fuhr, sah die Welt sicher ganz anders aus als jetzt um kurz vor elf in einem dunklen Raum, in dem nur der Fernseher lief und eine Schreibtischlampe brannte und das Zimmer in eine Melancholie tauchte, die sicher schuld daran war, dass er sich überhaupt Sorgen machte.
VIERUNDVIERZIG
Es knackte einmal kurz, und dann setzte Musik ein. Sofia schreckte auf und fuhr hoch. Im Bett sitzend, brach ihr augenblicklich der Schweiß aus, und zum ersten Mal musste sie überlegen, ob der Nachttisch rechts oder links von ihr war. Mit zitternden Händen drückte sie die breite, unterste Taste des Radioweckers, und eine monotone Computerstimme plärrte:
»Guten Morgen! Es ist sieben Uhr dreißig! Zeit aufzustehen!«
»Jonathan!« Sofias Stimme klang hoch und schrill. Sie schüttelte ihn. »Jonathan, bitte wach auf! Es ist etwas mit Daniela!«
Jonathan fuhr jetzt genauso elektrisiert in die Höhe wie noch ein paar Sekunden zuvor Sofia.
»Was denn? Wieso?«
»Der Wecker hat eben geklingelt, es ist schon halb acht! Sie ist nicht aufgewacht!«
Seit Daniela bei ihnen war, hatten sie den Wecker nicht mehr gebraucht und nicht mehr gehört, wenn er sich morgens einschaltete, denn Daniela schlief nie länger als bis sechs, allerhöchstens bis halb sieben. Aber auch das war erst zweimal vorgekommen.
Jonathan sprang aus dem Bett und rannte ins Nebenzimmer, wo Danielas Bettchen stand. Die Tür zwischen den beiden Zimmern stand immer offen, so dass Sofia und Jonathan sofort hörten, wenn Daniela irgendwelche Probleme hatte.
Sie lag ganz ruhig da, und als er sie hochhob, blinzelte sie, rieb sich mit ihrer kleinen Faust die Augen, und dann lachte sie.
»Sofia, komm her, es ist alles in Ordnung! Sie hat heute Morgen einfach nur mal richtig ausgeschlafen!«
Sofia hatte das Gefühl, Jonathan könne den Stein hören, der ihr von der Seele fiel. Sie nahm Daniela auf den Arm, bedeckte ihr Gesicht mit Küssen, streichelte und kitzelte sie, drückte sie an sich und flüsterte ihr ins Ohr. Dann legte sie sie auf die Kommode, die zum Wickeltisch umfunktioniert worden war, und begann sie auszuziehen.
Jonathan küsste Sofia aufs Haar und verschwand im Bad,
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