Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Menschenraeuber

Der Menschenraeuber

Titel: Der Menschenraeuber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
Vom Netzwerk:
wiederzuerkennen. Sie lag nicht mehr bis um zwölf im Bett, sondern stand oft um acht Uhr auf, um mit Sofia und Daniela zu frühstücken. Wenn Jonathan vom Berg gefahren war, um auf dem Markt oder im Supermarkt einzukaufen, oder wenn er Stunden beim Geometer oder bei der Baubehörde in Bucine verbrachte, weil er eine Genehmigung brauchte, um noch zwei Räume an das Haus anzubauen, dann half sie Sofia, das Fläschchen warmzumachen und Bananenbrei für Daniela zu kochen. Sofia konnte die Maßeinheiten auf dem Messbecher nicht sehen und die Mengen nur schätzen, aber Amanda ließ sie nie im Stich. Sie himmelte ihre kleine Enkelin an, schleppte sie stundenlang durch Haus und Garten oder lag mit ihr im Schatten unter dem Nussbaum und sang ihr Kinderlieder vor. Ganz allmählich verwandelte sie sich von einer versoffenen Schlampe in eine liebevolle Großmutter, und die ganze Familie beobachtete es mit Staunen.
    Daniela war mittlerweile auf den Namen Daniela Josefina Valentini offiziell angemeldet und ins Geburtsregister eingetragen. Für Freunde, Verwandte, Bekannte und alle, die die Valentinis kannten, war es ganz normal und ein freudiges Ereignis, dass Sofia endlich Mutter geworden war und ihrem sympathischen deutschen Ehemann eine Tochter geboren hatte.
    Im April wurde Daniela getauft. Für Don Lorenzo war es die wohl schönste Taufe seiner gesamten Amtszeit. Im letzten Sommer erst hatte Sofia ihm ihr Leid geklagt, und jetzt hielt er bereits ihr Kind über das Taufbecken. Auf eine ganz unauffällige Weise hatte Gott die Dinge gefügt, und Don Lorenzo war beeindruckt. Wenn ich noch nicht gläubig wäre – jetzt würde ich es werden, dachte er. Oh Herr, ich danke Dir!
    Diesmal hielt sich Amanda sehr zurück, und das Fest reduzierte sich auf ein Abendessen im kleinen Rahmen. Unter den Gästen waren auch Neri und Gabriella. So blieb es nicht aus, dass über den tödlichen Unfall im vergangenen Juni gesprochen wurde.
    »Ich habe an der Treppe zum Pool ein Geländer angebracht«, bemerkte Riccardo, »das sieht jetzt zwar nicht mehr ganz so schön aus wie vorher, aber dafür kann so etwas nicht noch einmal passieren.«
    »Bravo«, sagte Neri. Auch als Carabiniere musste man einfach öfter an das Gute im Menschen glauben und nicht immer das Schlechteste vermuten, wie es Alfonsos und Gabriellas Art war. Er hatte mal wieder Recht behalten. Letztendlich wurde immer alles gut.
     
    Der Sommer kam und mit ihm neue Gäste. Jonathan war dazu übergegangen, jeden Gast, der sich anmeldete, zu googeln, er wollte nicht wieder so eine Überraschung erleben wie mit Dr. Engelbert Kerner.
    Es war alles in Ordnung. Er hatte eine glückliche Frau, ein gesundes, wunderschönes Kind, ein solides Auskommen, und bis auf ganz wenige Ausnahmen schwieg die Stimme. Und doch gab es da etwas, das ihn wurmte, das ihn unzufrieden und nervös machte.
    Und erst ganz allmählich wurde ihm klar, was ihn störte, oder besser: was ihm fehlte. Er konnte den gelungenen und unentdeckten Mord, den Sieg über Tobias, den Besitz von dessen einzigem Kind und die Dankbarkeit und Zufriedenheit seiner Frau nicht genießen. Er wollte sehen und miterleben, wie Tobias litt.
    Und sein Wunsch wurde immer stärker, Tobias noch mehr und noch heftiger zu quälen.
     
    Es war der dreizehnte Juli um zweiundzwanzig Uhr fünfzehn. Sofia saß mit geschlossenen Augen im Schaukelstuhl und verfolgte eine Nachrichtensendung im Fernsehen, Daniela schlief in ihrem Bettchen. Jonathan setzte sich an den Schreibtisch und schrieb, sorgfältig mit einem Füllfederhalter, einen anonymen Brief an Tobias. Einen Brief, der nur aus zwei Sätzen bestand:
    Auch ich habe einmal ein Kind verloren, aber das Schicksal hat mir ein neues geschenkt. Mach dir keine Sorgen, auch dein Schicksal wird sich irgendwann wieder zum Guten wenden.
    Das war der blanke Hohn, und Jonathan war begeistert. Er schlug sich lachend auf die Schenkel, so heftig, dass Sofia irritiert den Kopf hob.
    »Was ist?«
    »Nichts, gar nichts. Ich hab nur gerade an was Komisches gedacht – aber das liegt lange zurück.«
    Sofia schloss die Augen und konzentrierte sich wieder auf die Sendung.
    Jonathan faltete das Briefpapier sorgfältig zusammen und schob es in einen Umschlag. Dann suchte er drei Babybilder von Daniela heraus und legte sie dazu. Eins im Garten, auf dem sie nur mit einer Windel bekleidet auf einer Babydecke lag und strampelte, eins, auf dem sie durch das Gras krabbelte, und eins, auf dem sie in ihrem Kinderstühlchen saß

Weitere Kostenlose Bücher