Der Menschenraeuber
um sich zu duschen.
Eine Dreiviertelstunde später kamen Sofia und Jonathan mit ihrer frisch gewickelten und fröhlich vor sich hin brabbelnden Daniela auf dem Arm aus ihrer kleinen Wohnung, um nach oben in die Küche zum Frühstück zu gehen.
Eher zufällig fiel Jonathans Blick auf die Kommode in der Diele.
Der Brief war nicht mehr da.
»Verdammt nochmal, wo ist der Brief, den ich gestern Abend auf die Kommode im Flur gelegt habe?«, brüllte Jonathan.
Amanda hielt sich demonstrativ die Ohren zu. »Der kann doch nicht weg sein«, murmelte sie, »hier schmeißt doch keiner Briefe in den Müll!«
»Aber er ist weg! Verschwunden! Porcamiseria!«
»Was war denn das für ein Brief?«, fragte Sofia vorsichtig, während sie Daniela den Sabberlatz umband.
»Das ist doch egal!«, fuhr ihr Jonathan über den Mund. »Es war eben ein Brief, und zwar ein verdammt wichtiger Brief!«
»Vielleicht ist er hinter die Kommode gerutscht.« Amanda blieb völlig gelassen und stand auf, um den Babybrei zu kochen. Sie hatte wenig Verständnis dafür, dass Jonathan wegen eines albernen Briefes so einen Aufstand machte.
»Da hab ich schon geguckt. Da ist nichts.«
»Oder Riccardo hat ihn mitgenommen. Er wollte nach Ambra. Und er nimmt doch sonst auch immer die Post mit, die da auf der Kommode liegt!«
Das stimmte. Die Kommode war der Sammelpunkt für Briefe, die weggeschickt werden sollten. Und wer die Post aus Ambra holte, legte dann wiederum die angekommenen Briefe auf die Kommode.
Amanda zerquetschte die Banane. »Ich nehme mal an, dein heiliger Brief lag da nicht nur zur Zierde. Also sei doch froh, wenn Riccardo ihn abgeschickt hat.«
Jonathan wusste plötzlich nicht mehr, ob er froh wäre, wenn der Brief abgeschickt wurde. Er war jetzt völlig verunsichert. Auf jeden Fall war es nicht gut, dass er in Ambra und nicht in Florenz aufgegeben wurde. Er hatte verhindern wollen, dass es Tobias gelingen könnte, den Wohnort des Absenders ausfindig zu machen.
»Wann ist er gefahren?«
»Um kurz vor acht.«
Jonathan sah auf die Uhr. Es war jetzt halb neun. Vielleicht hatte Riccardo ja erst einen Kaffee getrunken, bevor er zur Post ging.
Ein einziger winziger Hoffnungsschimmer.
Ohne ein weiteres Wort raste er aus der Küche, sprang ins Auto und fuhr los, dass der Kies unter seinen Reifen nur so durch die Gegend spritzte.
FÜNFUNDVIERZIG
Wortlos legte Tobias seinen Eltern den Brief und die Fotos auf den Tisch. Er war direkt nach der Kanzlei ins Auto gestiegen und nach Berlin gefahren. Jetzt war es kurz vor dreiundzwanzig Uhr.
»Sagt mir, was ihr darüber denkt!«
Tobias stand auf und ging zum Fenster. Er wollte seinen Eltern mit der Ungeheuerlichkeit Zeit lassen. Er selbst hatte die zwei Sätze bestimmt schon hundertmal gelesen, und von Mal zu Mal kamen sie ihm arroganter vor. Bösartiger. Intriganter.
Sein Hirn hatte die Bilder fotografiert. Tausendfach. Lisa-Marie war eine kleine Schönheit, das hübscheste Baby der Welt, und die Sehnsucht nach ihr war so stark, dass sein gesamter Brustkorb schmerzte. Er hatte jetzt einen winzigen Strohhalm in der Hand und die Gewissheit, dass sie lebte und es ihr gutging. Das war unendlich viel. Leonie hätte nicht sterben müssen. Sie wäre außer sich gewesen vor Glück.
»Ich glaube, du musst damit zur Polizei gehen«, durchbrach Hella als Erste die Stille. »Der Brief muss labortechnisch untersucht werden. Vielleicht sind DNA-Spuren daran. Und wenn sie die Bilder in ihren Spezialcomputer eingeben, können sie sicher Dinge erkennen, die wir nicht mal erahnen.«
»Nun mal langsam«, meinte Henning, »wir sind bestimmt alle schon ein bisschen müde, aber wir sollten jetzt keinen Fehler machen und erstmal sortieren, was wir wissen. Also: Der Entführer wollte definitiv Lisa-Marie haben, sonst würde er Tobias jetzt keinen Brief schicken. Meines Erachtens ist er ein Sadist, weil er unsere Wunden immer wieder aufreißen will, oder ein Wahnsinniger, denn es wäre klüger, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Er hat das Kind, und niemand ist ihm bisher auf die Spur gekommen. Warum meldet er sich? Er benimmt sich wie ein Täter, der zum Tatort zurückkehrt. Wahrscheinlich ist er ein Getriebener, der seinen Frieden noch nicht gefunden hat.«
»Aber wann hat er denn seinen Frieden? Was will er denn noch? Er hat Lisa-Marie, reicht ihm das nicht?«
»Nein.« Henning stand auf und holte aus seinem Barschrank den teuersten Cognac, den er besaß, und schenkte sich und Tobias einen Schluck
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