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Der Menschenraeuber

Der Menschenraeuber

Titel: Der Menschenraeuber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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mit halbem Ohr hin. Als er anschließend allein in seinem Büro saß, stellte er fest, dass er die beiden Fälle, die sich ähnelten, durcheinanderwarf.
    Es hatte keinen Zweck. Er war nicht bei der Sache, sondern dachte nur an Leonie. Die Ruhe, die sie heute Morgen ausgestrahlt hatte, war so untypisch für sie und machte ihn nervös. Er hatte schon oft in Büchern darüber gelesen, dass einer den anderen nicht an-, sondern durch ihn hindurchsah. Bisher hatte er davon nur eine ungefähre Vorstellung gehabt, aber heute Morgen hatte er es zum ersten Mal erlebt. Leonie war völlig abwesend gewesen.
    In den Tagen seit Lisa-Maries Verschwinden war sie von einem Extrem ins andere gefallen. Sie hatte nur geweint, mit ihrem Schicksal gehadert, geschimpft und das Krankenhaus verflucht, dann war sie still geworden, hatte sich die Bettdecke über den Kopf gezogen und war stundenlang nicht mehr aufgetaucht, es gab Momente, in denen sie euphorisch war und voller Hoffnung, oder aber laut und streng und voller Aktionismus. Dann plante sie Flugblätter zu verteilen, rief den Kommissar an und meldete sich beim Fernsehen, um dort einen Aufruf an die Bevölkerung durchzusetzen.
    Das war Leonie. Immer hundertfünfzigprozentig und nicht zu bremsen.
    Heute Morgen war sie so erschreckend gleichgültig gewesen. Oder ihr hatte noch die Müdigkeit in den Knochen gesessen.
    Manchmal weinte sie nachts im Schlaf, wimmerte wie ein kleines Kind, gluckste, schnappte nach Luft und stieß leise Schreie aus, ohne aufzuwachen. Dann streichelte er sie und redete sanft auf sie ein, bis sie wieder ruhiger schlief.
    Letzte Nacht jedoch war sie gar nicht im Bett gewesen. Er hörte sie im Arbeitszimmer rumoren, wollte noch aufstehen und sie fragen, was los sei, aber dann hatte ihn die Müdigkeit übermannt, und er war einfach eingeschlafen.
    Sicher hatte es einen ganz banalen Grund, dass sie heute Morgen so komisch, so anders gewesen war, trotzdem hielt er es im Büro nicht mehr aus und fuhr nach Hause.
    Als er in den Waldweg einbog, sah er gerade noch, wie Leonie vom Grundstück fuhr und in der entgegengesetzten Richtung davonbrauste.
    Er folgte ihr.
    Leonie raste über die Landstraße.
    Tobias hatte Mühe, ihr bei diesem Wahnsinnstempo zu folgen, aber sie schien es gar nicht zu registrieren, dass er ihr hinterherfuhr, sie achtete einfach nicht darauf. Sie achtete auf gar nichts – ignorierte Kinder am Straßenrand, die an einer Bushaltestelle warteten, und überholte unentwegt, ohne dass sie den weiteren Straßenverlauf einsehen konnte. Tobias schwitzte Blut und Wasser und riskierte sein Leben, um ihr auf den Fersen bleiben zu können. Er ahnte, dass diese Höllenfahrt niemals gut enden konnte, und fing an, auf sich aufmerksam zu machen. Er blinkte sie an, hupte – alles ohne Erfolg. Entweder sie bemerkte ihn wirklich nicht, oder sie wollte ihn nicht bemerken.
    Dann hörte er damit auf. Ließ sich etwas zurückfallen, vielleicht fühlte sie sich von ihm gejagt und würde langsamer werden, wenn sie ihn nur noch entfernt oder gar nicht mehr im Rückspiegel sah.
     
    Sie hatte ihr Ziel klar vor Augen: Die Plakatwand vor der Brandmauer kurz vor der Abbiegung zum Einkaufszentrum.
    Ein paarmal schon war sie an dem riesigen Bild vorbeigefahren. Es zeigte ein kleines Kind im Kindersitz, das am Verschluss des offenen Sicherheitsgurtes nuckelte. Das Rückfenster war zur Hälfte heruntergekurbelt, die feinen, blonden Haare des Kindes wehten im Wind. ›Bitte, schnall mich an, Mama‹, stand darunter, und dann in roter Signalschrift: Sorge für dein Kind, damit ihm nichts passiert!
    Leonies Wagen raste auf die Brandmauer zu.
    Sie öffnete den Sicherheitsgurt, ließ das Lenkrad los und verschränkte die Arme hinter ihrem Kopf. Dann schloss sie die Augen.
     
    Nur vage und im Unterbewusstsein registrierte Tobias das Plakat und den Kinderkopf. Er war voll auf Leonie konzentriert und erkannte plötzlich, dass sie die Kurve vor der Brandmauer auf keinen Fall schaffen würde.
    Er trat voll in die Bremse, hupte, blinkte, schrie, so laut er konnte, und sah, wie sie im gleichen Moment in voller Fahrt mit mindestens hundertzwanzig Stundenkilometern frontal in das Plakat raste und gegen die Mauer krachte.
    Leonies Wagen hing auf die Hälfte zusammengestaucht in dem völlig zerfetzten Bild. Da gab es keinen Platz mehr für den Menschen hinter dem Steuer.
    Als Tobias ausstieg und zu dem Wrack rannte, schrie er immer noch. Aber er merkte es nicht.

DREIUNDVIERZIG
    Amanda war nicht

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