Der Menschenraeuber
Welt sucht dich!«
»So?«, meinte sie. »Wie schön. Deswegen brauchst du doch nicht so zu brüllen!«
»Du hattest Vorstellung!«, schrie er noch lauter. »Das Theater ist brechend voll, nur wer nicht kommt, ist die Giselle! Hattest du vergessen, dass du Vorstellung hast?«
»Und? Ist was passiert?«, fragte sie, ohne seine Frage zu beantworten.
»Ja! Sie haben die Zuschauer nach Hause geschickt! Das ist passiert! Der Intendant ist vor den Vorhang getreten, hat ein paar nette Worte gesagt, ein paar Witzchen gemacht und sich entschuldigt. Die Leute kriegen ihr Geld zurück oder können in eine andere Vorstellung gehen. Aber was erzähle ich dir denn? Du weißt ja ganz genau, was passiert, wenn die Hauptdarstellerin oder die Primaballerina nicht da ist. Wo warst du?«
»Spazieren.«
Jonathan sank auf einen Stuhl und strich sich die Haare aus der schweißnassen Stirn. »Bist du jetzt völlig verrückt geworden?«
»Nein. Ich brauchte ein bisschen Ruhe.«
»Und wie willst du das dem Intendanten erklären? Willst du ihm auch sagen, dass du spazieren gegangen bist, weil du ein bisschen Ruhe brauchtest!?« Seine Stimme rutschte hoch, die letzten beiden Worte kiekste er nur noch.
»Ich gehe morgen früh zum Arzt und lasse mir ein Attest geben. Schließlich bin ich schwanger. Da macht man vielleicht manchmal merkwürdige Dinge. Außerdem weiß ich gar nicht, ob es erlaubt ist, in meinem Zustand noch zu tanzen. Ist nicht auch das Arbeiten nach zwanzig Uhr für Schwangere verboten?«
»Ich weiß es nicht.« Jonathan war jetzt ganz ruhig. Das Wort »schwanger« hatte ihm jeglichen Wind aus den Segeln genommen.
Sie stand auf, ging zu ihm und setzte sich auf seinen Schoß.
»Ich werde nicht mehr tanzen«, flüsterte sie. »Ich habe zu viel Angst, dass ihm etwas passieren könnte. Wenn ich springe oder wenn ich stürze. Es geht hier nicht mehr um mich«, flüsterte sie, »verstehst du das?«
Er nickte und drückte sie an sich.
»Ich habe mich also entschieden«, sagte sie und küsste ihn aufs Haar.
Mit diesem Satz machte sie ihn zum glücklichsten Mann der Welt, und er war entschlossen, alles für sie zu tun, ihr jeden Stern vom Himmel zu holen, wenn sie ihn darum bitten sollte.
Eines Nachts, Ende September, rüttelte Jana Jonathan leicht an der Schulter, als die Wehen einsetzten. Er schreckte auf, schaltete die Nachttischlampe an und fragte alarmiert: »Was ist?«, und sie antwortete: »Es geht los.«
Es funktionierte, als hätten sie es tausendmal geübt. Er schlüpfte in seine Jeans, sie zog lediglich einen Mantel über ihren Schlafanzug, nahm die seit Wochen gepackte Tasche, die im Flur stand, und sie fuhren los.
Jana versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, wenn sie der Schmerz tief in den Autositz drückte. Jonathan sah sie immer wieder fragend und voller Angst an, aber sie lächelte nur. »Alles okay. Fahr langsam. Ich halte es noch aus.«
Und dann ging alles sehr schnell. Jonathan wusste hinterher nicht mehr, warum sie in den OP geschoben wurde, er fand sich in einem hellgelb gestrichenen Warteraum wieder und sah sich auf und ab gehen, wie ein nervöser Tiger im viel zu kleinen Käfig.
Nach etwa zehn Minuten rief ihn eine Schwester, zog ihm sterile grüne Kleidung an und bat ihn, ihr zu folgen. Er ging durch drei oder vier Milchglastüren, und eine Stimme sagte: »Bitte, warten Sie hier!«
Bewegungslos blieb er stehen und wagte kaum zu atmen. Zwei Minuten später legte ihm eine Hebamme ein Mädchen in den Arm, das er sich so klein nicht vorgestellt hatte. Mit Händen und Füßen, winzig wie sein Daumen.
Sein Kind. Ganz warm und lebendig. Ein kleiner Mensch aus Fleisch und Blut. Er konnte es überhaupt nicht fassen.
An dem Tag, als Jana entlassen werden sollte, betrat er um Punkt halb zehn das Krankenhaus mit Babytragetasche und klopfendem Herzen. Jana saß schon fertig angezogen auf dem Bett, das Baby im Arm.
»Lass uns schnell gehen«, sagte sie, »du kannst dir nicht vorstellen, wie ich mich auf zu Hause freue!«
Von dem Kinderzimmer, das Jonathan eingerichtet hatte, war Jana begeistert. Sie küsste ihn auf den Mund, und ihm wurde bewusst, wie sehr er es vermisste, mit ihr zu schlafen. Sechs Wochen vor der Geburt hatten sie damit aufgehört, weil Jana nicht mehr wollte. »Ich kann nicht«, hatte sie gesagt, »es geht einfach nicht. Weil wir nicht mehr allein sind.«
Sie setzte sich in den Sessel am Fenster, schob ihren Pullover hoch und stillte das Baby. »Was hältst du davon, wenn wir
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