Der Menschenraeuber
stehen. Die letzten Sonnenstrahlen glitzerten auf dem Wasser, es wurde bereits kühler. Jana hatte kein Halstuch dabei, aber das war jetzt nicht wichtig. Sie genoss den stillen Moment am See und spürte, dass sie auf dem richtigen Weg war. Der Abend tat ihr gut, sie war so glücklich wie schon ewig nicht mehr.
Sie atmete tief durch und lief noch zwei weitere Runden um den See. So fühlt man sich, wenn man die ganze Welt umarmen möchte, dachte sie, wenn man sich selbst genug und völlig mit sich im Reinen ist.
Es war dunkel, als sie sich in ihren Wagen setzte und in die Innenstadt fuhr. Während der Fahrt überlegte sie, was sie jetzt tun sollte, versuchte herauszufinden, worauf sie Lust hatte, und war entsetzt darüber, dass ihr das nicht gelang. Sie war so eingebunden in ihre Pflichten, ihr Leben bestand nur aus Kontrolle und perfektem Funktionieren, dass sie gar nicht mehr wusste, was sie eigentlich wollte. Sie war wie erloschen, eine leblose Marionette, die tanzte, wenn man an den richtigen Strippen zog.
Und erst in diesem Moment kam ihr wieder das Theater in den Sinn. Sie sah auf die Uhr. Zwanzig vor neun. Vielleicht hatten sie die Vorstellung ausfallen lassen. Im Rückspiegel sah Jana, dass sie grinste.
Am Savignyplatz bekam sie auf Anhieb einen Parkplatz und ging zur Imbissbude, der S-Bahn gegenüber.
»Bitte eine Currywurst mit Pommes und Majo«, hörte sie sich sagen.
Die dicke Frau hinter dem Tresen nickte nur stumm. Diesen Satz hatte sie heute schon zigmal gehört, er war nichts Besonderes, für Jana war er eine Sensation. Die letzte Currywurst hatte sie in einer Freistunde gegessen, da war sie in der zehnten Klasse gewesen. Und sie hatte es bitter bereut, weil die Waage am nächsten Morgen fünfhundert Gramm mehr angezeigt hatte. Seitdem hatte sie es ihrer schlanken Linie zuliebe nie wieder gewagt.
»Von nun an werden wir essen, was uns schmeckt, wir zwei«, murmelte sie leise, und die Wurstverkäuferin sah sie irritiert an. Aber als Jana daraufhin grinste, grinste sie zurück.
Sie genoss jeden Bissen der Wurst und der Pommes, anschließend spazierte sie in Richtung Kurfürstendamm und trank in einer Champagnerbar in der Uhlandstraße noch ein Glas Weißwein.
»Darf ich Sie zu einem weiteren Glas einladen?«, fragte ein ungefähr vierzigjähriger Mann mit tadellosem Anzug und Milchgesicht neben ihr.
Jana starrte ihn einen Augenblick überrascht an. Dann sagte sie: »Nein. Wirklich nicht. Danke. Ich muss los, ich muss mit meinem Mann reden, sonst sterbe ich.«
Sie stürmte aus der Bar. Den Weg bis zu ihrem Auto rannte sie.
Jonathan kam um halb zehn nach Hause. Er überlegte, ob er sich ein Bier aufmachen und sich umziehen oder lieber direkt zur Oper fahren sollte, als er auf dem Schreibtisch das rote Lämpchen des Anrufbeantworters blinken sah. Sie haben 9 neue Nachrichten, stand auf dem Display.
Neun!, dachte Jonathan ungläubig. Du lieber Himmel, was sollte denn das? Jana hörte immer alle Nachrichten ab, bevor sie ins Theater ging, und abends rief normalerweise kaum jemand an, da alle Freunde, Bekannte und Verwandte wussten, dass sie meist im Theater und um diese Zeit nicht zu erreichen waren.
Er drückte auf die Wiedergabetaste.
»Jana! Hier ist Sally. Wo steckst du denn? Das Aufwärmtraining läuft, und wir wundern uns, dass du nicht da bist. Bitte melde dich!«
Jonathan runzelte die Stirn und drückte die Taste, um die nächste Nachricht abzuhören.
»Jana, was ist los? Es ist zehn vor sieben, verdammt, und du bist nicht da!«
Jonathans Puls begann zu rasen.
Die nächsten drei Anrufe waren vom besorgten Inspizienten, von einer nervösen Garderobiere und von Janas Tanzpartner Marco. Die letzten beiden waren dann wieder von der mittlerweile völlig aufgelösten Choreographin Sally.
»Scheiße, Jana, ich werde wahnsinnig! Ist dir was passiert? Warum haben wir hier im Theater keine Nachricht von dir? Ich hab mit der Intendanz gesprochen. Zehn Minuten warten wir noch, dann sagen wir die Vorstellung ab und schicken die Leute nach Hause. Es ist wirklich zum Heulen!«
Jonathan lief in den Flur, riss seine Jacke vom Haken, nahm die Autoschlüssel und rannte aus dem Haus.
Als er zwei Stunden später, krank vor Angst, wieder nach Hause kam und fest entschlossen war, die Polizei zu rufen, saß sie im Sessel und hörte Elton John.
Er starrte sie an, als sähe er ein Gespenst.
»Hi, Jon«, sagte sie und lächelte.
»Jana!«, schrie er, »verflucht noch mal, wo warst du? Die ganze
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