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Der Menschenraeuber

Der Menschenraeuber

Titel: Der Menschenraeuber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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Kopf geschossen waren. In der Luft riss sie die Beine zum Spagat auseinander und wusste doch, dass die Zeit nicht reichen würde, um zu landen wie gewohnt, so, wie sie es schon hundert-, wenn nicht tausendmal geprobt und perfekt geschafft hatte.
    Es war die Verzweiflung einer Tausendstelsekunde, in der sie begriff, dass sie nichts mehr ändern konnte, bevor sie fiel und einen stechenden Schmerz in Bauch und Rücken spürte. Wie gelähmt lag sie auf dem kühlen Parkett des Ballettsaals und konnte kaum atmen. Sie hörte Stimmen, aber verstand nicht, was sie sagten, sah Gesichter, aber erkannte niemanden.
    Ein einziger Gedanke überlagerte alles und machte sie taub und blind für das, was um sie herum geschah: Was ist mit dir? Ist dir etwas geschehen? Geht es dir gut? Mein Kind, mein armes Kind, das habe ich nicht gewollt.
    An diesem Vormittag war die Probe für Jana beendet. Sie duschte warm, cremte sich sorgfältig ein, um zu spüren, wo noch ein Schmerz saß, ging in die Kantine und trank drei Tassen schwarzen Kaffee. Und wieder ein Gedanke, den sie nicht wahrhaben wollte: Vielleicht hätte ich doch lieber einen Tee bestellen sollen. Er wäre besser für dich.
    Auf dem Heimweg begriff sie, dass es da war und dass sie es bereits in Schutz nahm.
     
    In der darauffolgenden Woche sahen sich Jana und Jonathan kaum. Jonathan musste zwei Produktionen am Deutschen Theater fotografieren, und Jana probte die »Julia«. Das Ballett »Romeo und Julia« sollte in drei Wochen Premiere haben.
    Am Samstag stand wieder »Giselle« auf dem Spielplan. Jana schlief bis elf. Jonathan war in der Galerie und hatte einen Klebezettel an den Spiegel im Badezimmer geheftet: Liebster Schatz, ich habe frischen Salat und ein bisschen Lachs eingekauft. Bitte, mach dir was zu essen. Ich hole dich nach der Vorstellung ab. Habe Sehnsucht nach dir. Kuss, Jon.
    Jana lächelte, zog den Zettel vom Spiegel, zerknüllte ihn und warf ihn in den Papierkorb.
    Dann duschte sie kurz und rieb sich hinterher mit einer Bodylotion ein, die nach Vanille roch, ihr Lieblingsduft, der manchmal wie ein Stimmungsaufheller wirkte, wenn sie dabei war, wie auf einer Bobbahn mit irrwitziger Geschwindigkeit in die Tiefe und ins Dunkel ihrer Gedanken zu rasen.
    Wäre eine Überwachungskamera im Haus gewesen und hätte man gefilmt, was Jana anschließend den Tag über tat, hätte man vermutet, der Film wäre in Zeitlupe gedreht, so gespenstisch langsam bewegte sie sich. Ganz gleich ob sie eine Tasse aus dem Schrank nahm, den Fisch in dünne Scheiben schnitt, eine Buchseite umblätterte oder lautlos auf Zehenspitzen durch den Raum ging.
    Um fünfzehn Uhr machte sie eine Stunde lang gymnastische Übungen auf einer Isomatte im Schlafzimmer, um sechzehn Uhr versuchte sie Jonathan anzurufen, konnte ihn aber nicht erreichen. Sie zog sich eine Jeans, T-Shirt, Pullover, Turnschuhe und eine leichte Windjacke an, packte ihre Sporttasche mit Handtüchern, Strumpfhose, Body, Schuhen und all den Dingen, die sie im Theater brauchte, trank aus einer Plastikflasche einen Schluck Mineralwasser, klemmte die halbvolle Flasche unter den Arm und verließ um sechzehn Uhr dreißig das Haus. So wie immer, wenn sie Vorstellung hatte.
    Janas dunkelblauer Passat stand in der Auffahrt. Sie warf ihre Tasche in den Kofferraum, stieg ein und fuhr los. Wie immer und wie gewohnt. An der nächsten Ampel musste sie rechts abbiegen. Sie fuhr mit fast siebzig auf die Kreuzung zu, als die Ampel auf Rot schaltete. Jana machte eine Vollbremsung und würgte den Motor ab.
    Vielleicht war dies der Moment, als ihr wieder der Sprung einfiel, der Grand jeté, den sie als Giselle viermal tanzen musste. Die Angst saß ihr im Nacken, und sie ließ den Motor erst wieder an, als zwei Wagen hinter ihr zu hupen anfingen. Hastig fuhr sie los, aber sie bog nicht nach rechts ab, sondern nach links.
    In die Straße, die direkt zum See führte.
     
    Jana begann zu laufen. Instinktiv und ganz automatisch achtete sie darauf, nicht auf Baumwurzeln oder in Löcher zu treten, um nicht umzuknicken. Ihr Atem ging ruhig und gleichmäßig, ihre Muskulatur war locker und entspannt, als würde der Trab um den See sie nicht im Geringsten anstrengen.
    Ich habe völlig verlernt zu laufen, dachte sie, ich tanze nur noch. Sie konnte sich auch nicht erinnern, wann sie das letzte Mal gejoggt, spazieren gegangen, am See, im Wald oder auf einer Wiese gewesen war, in diesem Frühling auf keinen Fall.
    Als sie den See einmal umrundet hatte, blieb sie

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