Der Menschenraeuber
sie Giselle nennen? Ich habe die Giselle auf der Bühne verloren und dafür eine neue bekommen.«
»Das ist eine großartige Idee!« Jonathan hatte es als quälend empfunden, dass sie sich zwei Wochen lang nicht auf einen Namen einigen konnten. Mittlerweile war ihm fast alles recht, außerdem klang Giselle wie Musik in seinen Ohren.
VIER
Jonathan wunderte sich, wie er es fertiggebracht hatte, bei dieser Kälte und in diesem klammen Bett überhaupt einzuschlafen, aber es war bereits halb acht, als er erwachte. So unangenehm es unter der Decke auch sein mochte, es war immer noch wärmer als im eiskalten Zimmer. Er fürchtete sich davor, aufzustehen, zumal er nicht heiß duschen konnte. Das hätte ihn wenigstens etwas für die grauenhafte Nacht entschädigt.
Es half alles nichts, hier hielt er es keinen Tag länger aus. Er würde Riccardo bitten, ihn nach Ambra zu bringen, und dann würde er mit dem nächsten Zug weiterfahren. In dieser Wohnung konnte kein Mensch im Winter existieren, wahrscheinlich hatte hier zwischen Oktober und April auch noch nie jemand übernachtet.
Eine halbe Stunde lag er bewegungslos im Bett, fest zugedeckt bis zum Kinn, und versuchte, noch einmal einzuschlafen, aber es gelang ihm nicht.
Es hat alles keinen Zweck, sagte er sich schließlich, ich muss aufstehen, ich muss hier raus, ich kann ja nicht in diesem Bett verschimmeln.
Mit großer Überwindung schlug er die Decke zurück und ging bibbernd ins Bad, wusch sich das Gesicht und putzte sich die Zähne, die wegen des eiskalten Wassers schmerzten.
Dann zog er sich an und trat aus der Wohnung. Aber auf den Ausblick, der sich ihm vor dem Haus bot, war er nicht vorbereitet. Der Himmel war zartblau, und im Sonnenlicht sah er über die bewaldete Toskana. Leuchtend weißer Nebel lag in den Tälern, und kleine Dörfer tauchten daraus auf wie mittelalterliche Burgen auf Inseln im Meer. Es war überwältigend. Noch hatte er keine Ahnung, wie die einzelnen Orte und auch die größeren Städte in der Ferne, die er ohne Fernglas nur erahnen konnte, hießen. Er ging einmal um das Haus herum und glaubte im Tal Ambra zu erkennen, das zumindest teilweise aus dem Nebel auftauchte.
In der direkten Umgebung des Hauses sah er Wiesen, Olivenhaine und einen dichten Wald aus Pinien, Eichen und Zedern.
Um den Brunnen herum standen Zypressen, ebenso hinter dem Haus, zerzaust und vom Wind gebeugt.
Ein so großes Grundstück und einen solch überwältigenden Blick hatte er nicht erwartet, aber das änderte nichts an seinem Entschluss, so schnell wie möglich von hier zu verschwinden.
Er ging die steile Treppe am Vorderhaus hinauf, betrat den Portico und klopfte an die Küchentür der Valentinis.
»Si! Venga!«, hörte er Sofias helle Stimme und betrat, »permesso« murmelnd, die Küche.
Im Radio lief ein italienischer Schlager, und der Sänger weinte mehr, als dass er sang. Sofias Finger flogen tastend über den Apparat, dann hatte sie den richtigen Knopf gefunden und schaltete das Gerät aus.
»Buongiorno«, sagte sie und drehte sich lächelnd zu ihm um.
Es traf ihn wie ein Schlag gegen die Brust, der einem den Atem nimmt. Gestern Abend hatte er sie nur schemenhaft und im Schatten wahrgenommen, hatte mehr auf die scheußliche Unterkunft als auf die Frau geachtet. Außerdem hatte sie ihre Haare, die ihr häufig ins Gesicht fielen, offen getragen.
Heute Morgen hatte sie ihre glatten dunklen Haare im Nacken zusammengenommen, genauso wie Giselle ihre Haare immer getragen hatte, mit einem bunten Gummiband, zwei-, dreimal um den Zopf geschlungen. Es hatte ihn immer fasziniert. Ein Handgriff, der nur wenige Sekunden dauerte, und die Frisur war perfekt.
Erst jetzt, bei Tageslicht, sah er Sofias Gesicht in allen Einzelheiten, die er gestern Abend bei Dunkelheit nicht erkennen konnte. Den kleinen Wirbel am Haaransatz und die beiden ausgeprägten Grübchen, die sich jetzt, als Sofia lächelte, deutlich zeigten. Grübchen, wie sie auch Giselle gehabt hatte. An der gleichen Stelle, in der gleichen Tiefe und Deutlichkeit.
Und plötzlich sah er sie vor sich, als wäre es gestern gewesen. Am Strand von Fuerteventura, bei einem Kurzurlaub im Frühling vor fünf Jahren. Sie war achtzehn und saß vor ihm im Sand, braungebrannt und mit nassem Haar. Die Haut an ihren Oberarmen und Oberschenkeln war mit Sand paniert, auf der Nase hatte sie einen leichten Sonnenbrand. Sie grub ihre Füße in den weichen, warmen Sand, malte mit ihrem Zeigefinger Schlangenlinien und sagte,
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