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Der Menschenraeuber

Der Menschenraeuber

Titel: Der Menschenraeuber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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gestern Abend noch einen Whisky getrunken hatte?
    Jana wurde immer nervöser.
    Sie sah außerdem, wie Giselle zur Tür taperte, den Wohnungsschlüssel aus der Glasschale nahm und die Tür aufschloss. Dann lief sie mit nackten Füßen in den Garten und auf die Straße, bis ein Auto anhielt, ein Mann ausstieg, sie hochhob wie eine Tasche mit Golfschlägern, auf den Rücksitz schob und mit ihr auf Nimmerwiedersehen davonbrauste.
    Sie konnte gar nicht mehr aufhören, Horrorszenarien zu fantasieren, und wollte gerade fluchtartig den Klassenraum verlassen, als sie der Lehrer ansprach: »Ach, Frau Jessen, haben Sie vielleicht noch einen Moment Zeit?«
    »Ja«, sagte sie nervös. »Ja, natürlich.«
    »Bitte nehmen Sie Platz«, meinte Lehrer Wirtz, setzte sich Jana gegenüber, lächelte und schlug die Beine übereinander.
    »Ich bin in Eile«, murmelte Jana. »Was gibt es?«
    »Ihre Tochter malt«, sagte Wirtz, »sie malt unentwegt. Sie passt nicht auf, sie hört nicht zu, sie lässt sich durch nichts ablenken – sie malt.«
    »Ich weiß. Das tut sie zu Hause auch.«
    »Ich habe mir ihre Bilder und Hefte, ihre Zettel und alles, was sie bemalt, etwas genauer angesehen, Frau Jessen, und ich kann nur sagen, ich habe noch nie – und ich bin jetzt fünfunddreißig Jahre im Schuldienst – ein Kind erlebt, das so fantastisch malt. Man müsste wohl eher sagen: zeichnet.«
    »Ah ja.« Jana wollte sich das alles nicht anhören, sie wollte nur nach Hause.
    »Ihre Tochter ist ein Genie, Frau Jessen, das dürfen wir nicht vergessen und nicht aus den Augen verlieren. Das müssen wir fördern: Sie zu Hause und wir hier in der Schule. Wenn sie ihr Talent ausbaut und kontinuierlich daran arbeitet, dann kann etwas ganz Großes aus diesem Mädchen werden.« Wirtz’ Augen leuchteten, und zwei Sekunden lang glaubte Jana, sie füllten sich mit Tränen, was ihr unheimlich war.
    Ich bin hier das Genie, dachte sie, mir lag die Welt zu Füßen, ich war auf dem Höhepunkt meiner Karriere, bis dieses Kind kam. Es hat ja keine Ahnung, was ich alles aufgegeben habe, es weiß ja nicht, wer ich war und was ich verloren habe. Ich war die Ballerina, die Anfragen von allen großen Opernhäusern Europas bekam, bevor mein Bauch anschwoll und sich das Wasser in meinen Knöcheln sammelte. Ich war die Giselle, bevor du kamst, Giselle, drum übe dich in Bescheidenheit, mein Kind.
    Jana saß steif auf ihrem Stuhl, spielte mit ihren Fingern und sagte gar nichts.
    »Das wollte ich Ihnen nur sagen«, meinte Lehrer Wirtz verlegen, der spürte, dass er gegen eine Wand sprach, »mir ist viel gelegen an diesem Mädchen.«
    »Gut«, sagte Jana und stand auf, »danke, dass Sie mir das alles gesagt haben. Es war sehr nett von Ihnen.«
    Ohne ein weiteres Wort und ohne sich von ihm mit Handschlag zu verabschieden, verließ sie das Klassenzimmer.
     
    Als sie nach Hause kam, saß Jonathan bei Giselle auf dem Bett, hatte sein Ballerinchen im Arm und las ihr ein Märchen vor.
    »Sei still, Mama«, sagte Giselle anstatt einer Begrüßung und machte eine abwehrende Handbewegung, »stör uns jetzt nicht, es ist gerade so spannend.« Dann strahlte sie ihn an und schmiegte sich in seinen Arm. »Lies weiter.«
    Jonathan lächelte Jana zu, aber diese war bereits gegangen und hatte die Kinderzimmertür hinter sich zugeknallt.
    »Giselle«, meinte Jonathan, »das tu ich ja, ich muss nur mal kurz zu Mama, ihr Guten Tag sagen. Willst du, dass gleich die Mama weiterliest?«
    »Nein«, schrie Giselle, »nein, nein, nein, nein! Bitte, bleib hier, Papa, geh jetzt nicht weg, lies weiter!«
    »Aber ich bin doch gleich wieder da! Reg dich nicht auf, nur zwei Minuten, ich will doch bloß die Mama begrüßen!«
    »Nein!!!«, tobte Giselle, »du musst erst fertig lesen! Bitte! Es ist doch grade so schön gruselig. Jetzt bist du endlich mal hier!« Sie schlang ihre Ärmchen um Jonathan und versuchte mit aller Kraft zu verhindern, dass er aufstand.
    Jonathan gab nach und las weiter.
     
    Als er eine halbe Stunde später in die Küche kam, sah er schon an der Art, wie Jana Kaffee kochte, dass sie immer noch auf hundertachtzig war.
    »Wie kommt es denn, dass du die Zeit gefunden hast, unserem Ballerinchen noch ein Märchen vorzulesen, während ich auf diesem stinklangweiligen Elternabend fast umgekommen bin? Ich dachte, du hast bis Mitternacht zu tun?«
    »Das dachte ich auch, aber dann hat es sich irgendwie ergeben, dass früher Schluss war.«
    »Ach was! Wieso das denn?«
    »Krämer musste weg.«

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