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Der Menschenraeuber

Der Menschenraeuber

Titel: Der Menschenraeuber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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Oliven zu ernten. Unter ihnen erkannte er Riccardo und überlegte gerade, ob er ein paar Terrassen hinunterklettern sollte, um Riccardo zu begrüßen, als sein Handy klingelte.
    »Wo bist du?«, fragte Jana.
    »In Italien. Hast du meine SMS nicht bekommen?«
    Er hörte, dass sie schluckte.
    »Und du willst mir nicht sagen, wo genau?«
    »Nein.«
    »Wie lange bleibst du?«
    »Ich weiß es nicht, Jana, ich weiß es wirklich nicht.«
    »Na: ein paar Tage, ein paar Wochen, ein paar Monate oder ein paar Jahre?« Sie war wütend und gereizt, und ihre Frage klang sarkastisch.
    »Ein paar Tage, ein paar Wochen, ein paar Monate oder ein paar Jahre. Ich habe keine Ahnung und will alles auf mich zukommen lassen«, meinte er betont ruhig.
    »Na toll. Und mich lässt du hier hocken!«
    »Du hast deine Arbeit, das Haus und den Wagen. Wo ist das Problem?«
    Jana sagte nichts mehr, sondern legte einfach auf.
    Jonathan setzte sich auf einen Stein. Er war aus Deutschland in ein anderes, fremdes Leben geflüchtet, weil er vergessen und verdrängen wollte, und hatte bisher genau das Gegenteil erreicht. Seit gestern Abend stürzten die Erinnerungen auf ihn ein und brachten ihm den Schmerz zurück, den er so heftig drei Jahre lang nicht mehr gespürt hatte.

FÜNF

    Giselle gedieh prächtig. Sie war ein properes Mädchen, hatte nicht den zarten Knochenbau ihrer Mutter, sondern eher die stabile Konstitution ihres Vaters. Alles, was bunt und schrill war, entzückte sie. Pullover und Kleider in knalligen Farben, gemusterte Tapeten, rosa Schuhe und lilafarbene mit Glitzersteinen besetzte Handtäschchen entlockten ihr schon »Ohs« und »Ahs«, bevor sie überhaupt sprechen konnte.
    Wenn Jonathan nach Hause kam, schoss sie auf ihn zu, umarmte ihn stürmisch und krähte: »Was hast du mir mitgebracht?« Und Jonathan guckte jedes Mal vollkommen überrascht. Das war ein sich ständig wiederholendes Ritual.
    »Das hab ich ja ganz vergessen! Hatte ich dir versprochen, etwas mitzubringen?«
    »Ja, das hast du!«
    Jonathan machte dann ein bestürztes Gesicht, und jedes Mal fiel Giselle darauf herein, zog eine Schnute und war maßlos enttäuscht.
    Schließlich fing sie an zu betteln. »Hast du mir wirklich nichts mitgebracht? Gar nichts? Auch keine klitzekleine Kleinigkeit?«
    Jetzt war der Moment gekommen, dass Jonathan anfing, seine Mantel-und Jackentaschen umzustülpen, bis er endlich aus der Hosen-oder Aktentasche ein Päckchen hervorzauberte. Ein Schmuckstück, ein Pixiebuch, einen Schlüsselanhänger, ein Spiel, Haarspangen oder Buntstifte. Irgendetwas hatte er immer dabei und sah ihr lächelnd zu, wenn sie ungeduldig das Einwickelpapier aufriss, vor Freude durch die Wohnung rannte, auf seinen Schoß sprang und sein Gesicht mit Küssen bedeckte.
    »Was soll das?«, fragte Jana oft. »Sie hat nicht Geburtstag, und du warst vielleicht acht Stunden, aber nicht wochenlang weg! Meine Güte, du musst ihr doch nicht jeden Tag was schenken! Wo soll denn das hinführen, wenn sie älter wird? Bringst du ihr dann jeden Tag ein Auto mit? Oder eine Stereoanlage?«
    Jonathan zuckte nur die Achseln. Er vergötterte sein kleines Püppchen eben und konnte sich nichts Schöneres vorstellen, als ihr jeden Wunsch zu erfüllen.
    Giselle war zu einem Vaterkind geworden, und Jana sah die Symbiose der beiden mit unverhohlenem Neid.
    In den vergangenen sieben Jahren seit Giselles Geburt war es mit Jonathans Karriere unaufhaltsam bergauf gegangen. Er war nicht nur einer der gefragtesten Theaterfotografen Berlins, sondern hatte außerdem eine Galerie in der Stadt, hatte mittlerweile zwei Bildbände herausgebracht und besaß ein Büro und Fotostudio am Roseneck, das er selbst für spezielle Werbeaufträge nutzte oder für Sessions an andere Fotografen vermietete.
    Doch auch Jonathans außergewöhnliches Organisationstalent war in der Oper, in den Theatern und im Kulturbetrieb der Stadt nicht unbemerkt geblieben. So hatte er schließlich Events nicht nur fotografiert, sondern auch an deren Organisation mitgearbeitet. Und irgendwann wurde er selbstständig mit der Planung großer Veranstaltungen betraut. Das Geschäft florierte, Jonathan war sein eigener Chef, konnte machen, was er wollte, und verdiente mehr Geld, als er es sich jemals erträumt hatte.
    Währenddessen fiel Jana zu Hause die Decke auf den Kopf.
    Giselle war sieben und ging in die erste Klasse. Sie liebte die Schule, stand morgens oft schon um fünf auf, weil sie es nicht erwarten konnte, endlich loszugehen.

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