Der Menschenraeuber
Jonathan spürte genau, dass er gerade das nicht hätte sagen dürfen, aber jetzt war es zu spät.
Jana stieß einen spöttischen Schrei aus. »Offensichtlich sind nicht alle solche Weicheier wie du! Wenn andere wegmüssen, dann gehen sie einfach, und dann ist die Sitzung eben zu Ende!«
»Ja. Vielleicht hast du Recht. Vielleicht gibt es in der Kommission tatsächlich nur ein einziges Weichei, und das bin ich«, meinte er sarkastisch.
»Seit zwei Wochen warst du abends nicht mehr da, Jonathan! Tagsüber natürlich auch nicht! Und ich werd dir mal was sagen: Ich bin hier die Blöde, die für Giselle kocht, und wenn es nicht Spaghetti mit Tomatensoße oder Milchreis mit Zucker und Zimt gibt, brüllt sie ›Iiiih, wie eklig‹ und schließt sich im Klo ein. Wenn sie im T-Shirt rausrennen will, zwinge ich sie, eine Jacke überzuziehen, dann wird sie sauer und schreit mich an. Ich fahre sie zur Schule und hole sie ab. Ich bringe sie nachmittags zu ihrer Freundin, besorge der Mutter ein paar Blumen und hole sie wieder ab. Ich bin mehr im Auto als zu Hause, aber sie ist nicht dankbar dafür, sondern wütend!«
»Das weiß ich doch alles, Jana!«
»Lass es mich wenigstens sagen, verdammt! Ich ersticke daran, Jon, ich muss mir wenigstens mal Luft machen!«
Jonathan nickte.
»Wann warst du eigentlich das letzte Mal in Giselles Zimmer?«
»Na heute Abend! Gerade eben!« Er runzelte die Stirn, als zweifelte er an ihrem Verstand.
»Ach, ja richtig. Eben. Und? Ist dir was aufgefallen?«
»Nein. Nichts. Es war alles okay.«
»Ja. Weil ich jeden Tag mit ihr kämpfe, damit sie aufräumt. Sonst sieht ihr Zimmer nämlich nicht aus wie das Zimmer eines kleinen Mädchens, sondern wie das Atelier eines durchgeknallten Malers, der seine Kunstwerke auf Bett und Fußboden verteilt und gerne auch mal den Teppich in seine Kreativität mit einbezieht. Man kann auch Schweinestall dazu sagen, Jon. Jedenfalls kann man in diesem Chaos keine Schularbeiten mehr machen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sie mich anblökt, wenn ich sie zwinge, diesen Dreckstall aufzuräumen und ihren Schulkram zu erledigen. Sie hasst mich. Wegen all dieser Sachen. Und auch weil ich sie nicht bis in die Puppen fernsehen lasse, sondern um acht ins Bett scheuche.«
»Sie ist ein kleines Genie, Jana«, flüsterte Jonathan.
»Ach hör doch auf mit diesem Scheiß!«, schrie Jana. »Sie ist ein kleines Miststück, das mir das Leben zur Hölle macht und ihren Papi anhimmelt, der ihr nie etwas verbietet, weil er einfach nicht da ist!« Jana schlug fünfmal mit der flachen Hand auf den Tisch. »Du bist nicht da! Und ich bin die dumme Kuh, die den Alltag bewältigen muss, und dabei verliere ich meine Tochter, Jon! Giselle mag mich nicht mehr. Wenn ich ihr in die Augen sehe, wird mir ganz klar, dass sie nur den einen Wunsch hat, mich loszuwerden. Weg mit der, die ihr alles verbietet! Und dann kommst du alle zwei Wochen mal vorbei, liest ihr ein Märchen vor und bist ihr allerliebster Schatz! Sie hat eine böse Mama und einen lieben Papa. Das hat sich in ihrer kleinen Birne festgesetzt.«
»Du übertreibst«, erwiderte Jonathan kraftlos, aber er verstand sehr gut, was sie meinte. Während der Schwangerschaft hatte er ihr versprochen, bei seiner Karriere zurückzustecken und sich um Giselle zu kümmern, um ihr einen Wiedereinstieg als Primaballerina zu ermöglichen, aber genau das Gegenteil war passiert. Seine Karriere als Fotograf und Eventmanager war regelrecht explodiert, und Jana war hinten runtergefallen und hatte nie wieder den Einstieg ins Ballett gefunden. Erst jetzt wurde ihm klar, dass er das jahrelang verdrängt hatte.
»Ja sicher«, spottete Jana, »ich übertreibe immer! Aber die Ablehnung meiner Tochter, dieser unwillkürliche kindliche Hass ist der Dank dafür, dass ich meine Karriere geopfert habe, hier Hausfrau und Kindermädchen spiele, den Moralapostel gebe und die gesamte Dreckarbeit erledige. Und weißt du, was ich dazu sage?«
»Nein«, meinte Jonathan und hoffte, dass dieses Gespräch bald vorbei sein würde, denn im Grunde stand die ganze Zeit er am Pranger.
»Mein Resümee ist, dass es reicht, Schatz. Ich mach das nicht mehr länger mit. Ich werde dich verlassen, Jonathan.«
Jonathan fiel die Kinnlade runter.
»Wie?«, fragte er.
»Entschuldige, ich habe mich versprochen«, sagte Jana ruhig. »Es war nicht ganz richtig, was ich gesagt habe. Ich werde nicht nur dich, ich werde euch verlassen. Giselle kann bei dir bleiben. Bei ihrem
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