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Der Menschenraeuber

Der Menschenraeuber

Titel: Der Menschenraeuber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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Der Unterricht war für sie ein Paradies, das aus Zeichen-, Mal-und Schreibpapier, Bunt-und Wachsmalstiften, Kreide, Tusche und Knete bestand. Sie konnte nach Herzenslust zeichnen, bunte Bilder malen oder mit blauer oder grüner Tinte Buchstaben und Zahlen schreiben. Sie formte mit Knete kleine Tiere oder tuschte, was in ihrer Fantasie herumgeisterte. Bizarre Wolken vor einem blau-lilafarbenen Gewitterhimmel, einen Teller mit Spaghetti Bolognese, wenn sie Hunger hatte, oder Papa auf dem Fahrrad oder in einem Ruderboot, wenn sie sich aufs Wochenende freute.
    Auch zu Hause malte sie weiter. Kein Blatt Papier war vor ihr sicher, keine Wand und kein Tisch. Sie verzierte Eier nicht nur zu Ostern mit Gesichtern und bunten Mustern, sie zeichnete das, was Jana zum Abendessen auf den Tisch stellte, oder ihren Vater, wenn er vor dem Fernseher vor Erschöpfung einschlief und dabei so schön stillhielt. Wenn sie ihn sonst bat, einen Moment stillzuhalten, weil sie ihn zeichnen wollte, war das fast unmöglich. Dann zwinkerte er ihr zu, machte Faxen, zog Grimassen oder sagte alle zwei Minuten: »Komm mal her, Ballerinchen, ich muss dir einfach schon wieder einen Kuss geben, sonst sterbe ich.«
    Er nannte Giselle »Ballerinchen«, was Jana jedes Mal einen Stich gab. Sie war die Ballerina, sie war die Giselle, nicht ihre kleine, rundliche Tochter, die ihren Tuschkasten liebte, aber ansonsten über die eigenen Füße fiel.
     
    Jonathan war bereits fünf Abende hintereinander nicht zu Hause gewesen und hatte sein Ballerinchen fast eine Woche lang überhaupt nicht gesehen. Nur nachts, wenn er nach Hause kam, öffnete er leise die Kinderzimmertür, sah im Licht der Laterne, die vor dem Haus stand, wie ruhig sie schlief, und küsste sie auf die Stirn, wovon sie niemals erwachte. Er litt darunter, dass er nicht mehr Zeit für sie und Jana hatte, aber er konnte es nicht ändern, denn er bereitete den Berliner Theaterball vor. Das größte Projekt, das er bisher betreut und organisiert hatte. Er arbeitete Tag und Nacht und wusste nicht mehr, wo ihm der Kopf stand.
    »Morgen ist Elternabend«, sagte Jana, als Jonathan eines Abends kurz nach Mitternacht nach Hause kam und das Gefühl hatte, keinen klaren Gedanken mehr fassen, kein Wort mehr sagen und keinen Schritt mehr gehen zu können. »Wie wär’s, wenn du da mal hingehst. Irgendwie wird es ja wohl möglich sein, dass du mal einen Zehnstundentag einschiebst, nachdem du wochenlang sechzehn Stunden gearbeitet hast. Wo sind wir denn? Ich habe diese ganze Kinderkacke jedenfalls gründlich satt!«
    Bei dem Wort »Kinderkacke« zuckte Jonathan förmlich zusammen. So ein Wort war ungewohnt aus Janas Mund, die dünnhäutig und hochsensibel war, und er empfand es als Bedrohung. Als Bedrohung für Giselle, die von den Aggressionen ihrer Mutter nichts ahnte.
    »Das geht nicht!«, stöhnte er, »das weißt du doch! Komm mir doch nicht mit solchen Sachen, nur um mich fertigzumachen! Ich kann in dieser Woche nicht. Nicht, bis der Ball vorbei ist.«
    »Und dann kommt das nächste Event. Du atmest vielleicht zwei Tage durch … und dann unterschreibst du wieder einen Vertrag. Unser Leben ist eine einzige Katastrophe. Jedenfalls für mich!«
    Jana war an diesem Abend nicht aggressiv, sondern regelrecht verzweifelt. Das sah er ihr an.
    Sie gingen ohne weitere Diskussion ins Bett und schliefen nebeneinander ein, wie schon so oft und wie seit Wochen, ohne sich zu berühren.
     
    Jana ging zum Elternabend. Giselle schlief in ihrem Bettchen, und unter dem Bett lag ihr Malblock. Wenn sie Angst bekam, machte sie Licht und begann zu malen. Das vertrieb besser als jeder Babysitter die Gespenster der Nacht.
    Während des dreiviertelstündigen Monologs des Klassenlehrers, der die unterschiedlichen Methoden erklärte, Schulanfängern Lesen und Schreiben beizubringen, und dann vehement diejenige verteidigte, die in dieser Schule angewandt wurde, langweilte sich Jana tödlich. Sie gähnte unkontrolliert und hoffte, dass der sinnlose Spuk bald ein Ende haben würde.
    Als der Lehrer den Abend beendete und die Abschiedsfloskeln abspulte, packte Jana eine innere Unruhe. Vor ihrem geistigen Auge sah sie die Wohnung in Flammen stehen und Giselle in ihrem dünnen Nachthemd auf dem Fensterbrett in Todesangst um Hilfe schreien. – Und sie sah, wie Giselle im Wohnzimmer die Schranktür zur Bar öffnete und eine Flasche Cognac leertrank. Hatte sie den Schlüssel zu der Bar nun abgezogen oder steckte er immer noch, weil Jonathan

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