Der Menschenraeuber
ihr einfach so über die Wangen, während sie teilnahmslos aus dem Fenster sah, und Jonathan dachte, dass es tröstlich wäre, wenn sie einfach so weiterweinen würde. Tag und Nacht, Wochen und Monate, bis Giselle aus seinem Gedächtnis verschwunden war.
TOBIAS
DER POLIZEIPRÄSIDENT IN BERLIN PRESSEMELDUNG
Berlin, Charlottenburg, 21. 6. 1998
Am Donnerstagnachmittag um 15 Uhr 28 kam es Bleibtreu-/Ecke Kantstraße zu einem schweren Verkehrsunfall. Ein schwarzer Golf ignorierte die rote Ampel und raste mit stark überhöhter Geschwindigkeit auf die Kreuzung. Der Fahrer versuchte, einem von rechts kommenden weißen Kleintransporter auszuweichen, verlor dabei die Kontrolle über sein Fahrzeug, kam ins Schleudern und erfasste eine zwanzigjährige Frau, die an der Ampel stand. Sie erlag noch an der Unfallstelle ihren schweren Kopfverletzungen.
Der Fahrer des Unfallwagens flüchtete, stellte sich aber wenige Stunden später der Polizei. Eine Blutprobe bei dem erst neunzehnjährigen Fahrzeugführer ergab einen Blutalkoholgehalt von 2,8 Promille.
NEUN
Die Verhandlung gegen Tobias Altmann begann um elf Uhr dreißig in Saal acht. Tobias saß mit frisch geschnittenen Haaren dem Richtertisch genau gegenüber, neben ihm sein Anwalt Norbert Frey. Tobias’ Anzug war dunkelblau und nagelneu, er trug dazu eine dezente beigefarbene Krawatte und fühlte sich in dieser Kleidung, die für ihn eher eine Verkleidung war, ungewohnt und unwohl. Das sah man ihm nicht nur an der Nasenspitze an, man spürte es sogar, wenn man nur seinen Rücken im Blick hatte.
Hinter ihm auf den Zuschauerbänken saß Jonathan Jessen, der Vater des Opfers.
Jana war nicht mitgekommen. »Ich halte das nicht aus«, hatte sie erklärt, »ich kann den Typen nicht sehen. Ich glaube, ich würde die ganze Zeit heulen.«
Also war Jonathan allein im Gerichtssaal und hatte Lust, den Rücken dieses jungen Mannes, auf den er die ganze Zeit starrte, mit einem Schrotgewehr zu durchlöchern.
Der Vorsitzende Richter Dr. Engelbert Kerner eröffnete die Verhandlung. Während er die nötigen Formalitäten zu Beginn eines Prozesses abhakte, wanderte sein Blick über die Anwesenden. In der letzten Reihe saß Henning Altmann, Tobias’ Vater. Henning – seit über dreißig Jahren sein bester Freund.
Direkt nach dem Unfall hatte Henning ihn angerufen.
»Engelbert«, sagte er, und seine Stimme flatterte vor Nervosität, »ich brauche deine Hilfe. Tobias hat großen Mist gebaut. Er hat im Suff eine Frau totgefahren und anschließend Fahrerflucht begangen.«
Engelbert musste das Ganze einen Moment verdauen. Dann antwortete er, obwohl er noch nicht genau wusste, ob er sein Versprechen würde halten können:
»Das geht klar, Henning. Mach dir keine Sorgen. Ich werde tun, was in meiner Macht steht.«
Als Anklage gegen Tobias Altmann erhoben wurde, bemühte er sich möglichst unauffällig, den Fall übernehmen zu können. Und es gelang ihm sogar. Niemand wusste, dass er und Henning eng befreundet waren, und solange der Prozess vorbereitet wurde, vermieden die beiden Freunde jeglichen Kontakt.
Heute war nun der Tag, an dem er über die Zukunft des Sohnes seines Freundes entscheiden sollte.
Die Anklage wurde verlesen, und Tobias, der von seinem Recht, zu schweigen, keinen Gebrauch machte, erzählte, was er von dem Unfallhergang überhaupt noch wusste. Viel war es nicht. Aber er machte seine Sache gut, war geständig, einsichtig und schien das Geschehene zutiefst zu bereuen. Er redete klar und deutlich, drückte sich gewählt aus und demonstrierte so, dass er aus einem guten Elternhaus kam und eine hohe Schulbildung genossen hatte.
Prima, dachte Engelbert, besser kann man sich als Angeklagter nicht präsentieren.
»Wie kam es überhaupt dazu, dass Sie an diesem Samstagnachmittag betrunken Auto gefahren sind?«, fragte Engelbert, obwohl er die Antwort zur Genüge kannte, und Tobias erzählte bereitwillig seine Geschichte.
Er hatte für die Abwesenheit seiner Eltern klare Instruktionen bekommen: täglich die Gartenblumen gießen und den Rasen sprengen, am Sonntag die Chemie im Pool kontrollieren, gegebenenfalls etwas nachkippen, die Skimmer säubern und wenn nötig den Poolboden absaugen. Abends vor dem Schlafengehen die Gartenbeleuchtung ausmachen und die Jalousien herunterlassen, der Schildkröte in ihrem Freigehege täglich Salat und frisches Wasser geben. Beim Verlassen des Hauses nie vergessen, die Alarmanlage einzuschalten und die Garagentür zu schließen. Die
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