Der Menschenraeuber
Papierkorb. Wahrscheinlich hatte sie sich jetzt etwas zuschulden kommen lassen, das ihr gar nicht bewusst war.
Polizeiobermeister Märten rieb sich die Hände und fühlte sich sichtlich unwohl in seiner Haut.
Jana bat die beiden Polizisten nicht ins Wohnzimmer, sondern sah sie abwartend, aber nicht unfreundlich an.
»Es tut mir sehr, sehr leid, Frau Jessen«, begann Märten unbeholfen, »wir haben leider eine schlechte Nachricht.« Er holte tief Luft und wischte sich nicht vorhandenen Schweiß von der Stirn. »Ihre Tochter Giselle hatte heute Nachmittag einen Unfall. Sie wurde an einer Fußgängerampel von einem schleudernden Pkw erfasst und tödlich verletzt.«
Jana starrte den Polizisten stumm an und versuchte zu begreifen, was sie da gerade gehört hatte.
»Wie?«
Die Polizisten blickten zu Boden.
»Sie ist tot?«
Jesorsky nickte.
»Ich versteh nicht.« Jana fing an zu zittern. Geistesabwesend wie eine Schlafwandlerin öffnete sie die Tür zum Wohnzimmer und ging hinein. Die Polizisten folgten ihr.
Aus Jonathans Arbeitszimmer drang Musik.
Um nicht umzufallen, stützte sich Jana auf den Esstisch, während Märten leise und sachlich den Unfall schilderte. Jana hörte zwar zu, aber es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren, sie verstand gar nichts, hoffte, dass dies alles nur ein böser Traum wäre und sie gleich erwachen würde. Innerlich schrie sie nach Jonathan. Bitte, flehte sie in Gedanken, komm her, nimm mich in den Arm, halt mich fest, rede mit diesem Mann, der diese fürchterlichen Dinge erzählt, die nicht wahr sind, nicht wahr sein können, und sorge dafür, dass ich davon nichts und nie wieder etwas höre!
Aber nichts von alldem geschah. Sie schwieg, während der Polizist leise redete, und dann rannte sie plötzlich aus dem Zimmer und nach oben.
Jonathan saß an seinem Schreibtisch vor seinem Computer und durchsuchte abgespeicherte Fotos. Er wollte für seine Geburtstagsgäste eine Begrüßungsrede halten und einige Bilder zeigen. Das Radio lief mit sehr lauter Musik, und so merkte er nicht, wie Jana hereinkam.
Sie spielten gerade seinen Lieblingssong, als Jana plötzlich vor ihm stand.
Jonathan lächelte sie an und hob abwartend die Hand, weil er das Lied zu Ende hören wollte.
»Time to say goodbye«, sangen Andrea Bocelli und Sarah Brightman.
»Giselle ist tot«, schrie Jana schrill, um den Gesang zu übertönen.
Jonathan hatte alles gehört, aber er starrte sie an, als hätte er nichts begriffen.
»Time to say goodbye.«
Er schaltete die Musik nicht aus, ließ das Lied weiterlaufen, stand wie versteinert und war unfähig, sich zu bewegen. Konnte noch nicht einmal den Arm heben, um sich auf ihre Schulter zu stützen.
»Man hat sie überfahren!«, brüllte ihm Jana ins Gesicht.
Jonathan sagte immer noch nichts.
Wortlos drehte sich Jana um und ging aus dem Zimmer. Nach unten, wo die Polizisten warteten.
Jonathan brauchte einige Sekunden, bis er in der Lage war, ihr zu folgen.
»Es tut mir so unendlich leid«, sagte Märten und gab Jonathan die Hand.
Jonathan nickte nur.
»Ich will sie sehen«, murmelte Jana.
»Wenn Sie möchten, fahre ich Sie ins Krankenhaus«, meinte Märten leise. »Sie müssen Ihre Tochter ja auch identifizieren.«
Die beiden Beamten gingen hinaus und warteten vor der Tür.
Jana lehnte sich an die Wand, weil sich vor ihren Augen das ganze Zimmer drehte.
»Giselle!«, schrie Jonathan plötzlich, kippte den Kopf in den Nacken, riss den Mund auf und rief stumm um Hilfe.
So hatte Jana ihren Mann noch nie gesehen. Sie spürte regelrecht, wie sich dieses Bild in ihre Seele einbrannte, und sie wusste, dass sie es nie mehr vergessen, nie mehr loswerden würde. Und nur deshalb begriff sie in diesem Moment, dass alles verloren, dass ihre Tochter wirklich gestorben war.
Jonathan identifizierte Giselle, und er hatte das Gefühl, zu lügen. Wach auf und komm mit nach Hause, betete er, als er sie im Kühlraum des Krankenhauses auf der Bahre liegen sah. Ihr Haar war blutig und verklebt, irgendjemand hatte es ihr streng nach hinten aus dem Gesicht gekämmt und außerdem die zertrümmerte Seite ihres Kopfes mit einem Tuch abgedeckt. Der Rest des Gesichtes war engelsgleich, mit elfenbeinfarbener Haut.
Er wollte es einfach nicht wahrhaben.
Bewegungslos stand er neben seiner toten Tochter, vergaß Raum und Zeit und kam erst wieder zu sich, als er nach ewig langen Minuten sanft aus der Pathologie geführt wurde.
Im Auto weinte Jana lautlos. Die Tränen liefen
Weitere Kostenlose Bücher