Der Menschenraeuber
steh auf!«
Tobias versuchte aufzustehen, sank aber immer wieder zurück auf die Matratze.
Henning kontrollierte Tobias’ Puls und maß seine Körpertemperatur. 36,9 Grad zeigte das Fieberthermometer. Unterkühlt war er also noch nicht.
In der Küche ignorierte Henning die übervollen Aschenbecher und die Teller und Tassen, die als solche hatten herhalten müssen, die leeren und halbvollen Flaschen, die Essensreste, das schmutzige Geschirr, das Erbrochene in der Spüle und die Weinbrandlache auf dem Fußboden und füllte ein Wasserglas halbvoll mit Whisky.
»Weißt du noch, was passiert ist?«
Tobias sah seinen Vater mit großen Augen an und antwortete nicht.
»Weißt du noch, dass du uns heute Nachmittag angerufen hast?«
Tobias nickte zaghaft.
»Du hast eine Frau überfahren, und dann bist du abgehauen. Und jetzt haben wir ein Problem.«
Tobias fing wieder an zu weinen. Henning drückte ihm das Whiskyglas in die Hand.
»Los, trink!«
Tobias nahm einen Schluck, spuckte ihn aber sofort wieder aus. »Ich kann nicht«, stöhnte er.
»Natürlich kannst du. Du trinkst das jetzt, und fertig. Es ist wichtig. Wenn du willst, dass ich dir aus der Scheiße raushelfe, mach gefälligst, was ich sage.«
Tobias trank widerwillig und ständig würgend. Dann zog Henning ihn vom Bett hoch.
»Genug. Jetzt fahren wir zur Polizei. Und du sagst ihnen alles, was du noch weißt. Auch wenn es nicht viel ist. Und es tut dir verdammt leid, ist das klar?«
Tobias nickte. Henning legte sich seinen Arm um die Schultern und schleppte ihn zur Tür.
Auf dem Revier erfuhr Henning, dass die junge Frau noch an der Unfallstelle gestorben war. Er hatte Lust, Tobias, der wie ein Häufchen Elend in der Ecke stand und sich mühsam am Tresen festhielt, anzuschreien und zu verprügeln, und beherrschte sich nur mit Mühe. Du musst jetzt einen kühlen Kopf behalten, Henning, das ist das Wichtigste, hatte Engelbert gesagt. Das war ja richtig, aber es fiel ihm verdammt schwer, so wütend war er auf Tobias.
Der Polizist nahm alles auf, was Tobias zum Unfallhergang zu sagen hatte. Das war nicht viel, zumindest gab er jedoch eindeutig zu, betrunken am Steuer gesessen und den Unfall verursacht zu haben. Der Beamte notierte auch, in welch desolatem Zustand Tobias sich befand und dass er sich kaum auf den Beinen halten konnte.
Die anschließende Blutuntersuchung, deren Ergebnis einen Tag später vorlag, ergab einen Blutalkoholgehalt von 2,8 Promille, den man noch hochrechnete, da der Unfall zum Zeitpunkt der Blutabnahme bereits über vier Stunden her war.
Henning verbürgte sich dafür, dass Tobias, wenn er wieder nüchtern war, in den nächsten Tagen für weitere Befragungen selbstverständlich zur Verfügung stehen würde.
Dann fuhren sie nach Hause.
Auf der Fahrt sprachen sie kein einziges Wort. Tobias wartete auf Vorwürfe, Vorhaltungen, Fragen. Aber da kam nichts, gar nichts. Er starrte auf das unbewegliche Gesicht seines Vaters und wünschte sich, dass er ihn anschreien möge, damit es endlich vorbei wäre, aber Henning blieb stumm.
»Du sagst ja gar nichts«, sagte er nach einer Weile und hatte plötzlich das Gefühl, wieder vollkommen nüchtern zu sein.
»Es gibt nichts zu sagen«, meinte Henning sachlich. »Alles, was ich sagen könnte, weißt du ohnehin selbst.«
Als sie zu Hause waren, schmiss Henning alle raus, die noch in seinem Haus herumlungerten. Hella hatte bereits angefangen, Ordnung zu machen.
Dann sah Henning seinen Sohn an.
»Ich hau dich da raus.« Seine Stimme klang brüchig und kalt. »Mit Engelberts Hilfe hau ich dich da raus.« Damit ließ er Tobias einfach im Wohnzimmer stehen.
Sie sprachen nie wieder darüber. Auch Hella sagte keinen Ton. Nichts wurde erwähnt, nicht die Rotweinf lecken im Teppich, nicht der verwüstete Garten, der verdreckte Pool, die Brandf lecken im Sofa und auch nicht der Totalschaden des Wagens.
Über die tote junge Frau sprach erst recht niemand. Das Thema war tabu.
Tobias wusste nicht mehr ein noch aus. Er weinte in den Nächten und flehte den Himmel an, alles ungeschehen zu machen, aber dieses Wunder blieb aus.
»Tja, ihr Lieben«, meinte Henning und zündete sich ein Zigarillo an, »als ihr vorgestern angerufen und gesagt habt, dass ihr übers Wochenende kommt, haben wir uns natürlich riesig gefreut, ist ja klar, wir haben uns ja auch schon lange nicht mehr gesehen …, aber da gibt es doch sicher auch einen Grund, oder? Ist was passiert? Gibt’s was Neues?«
»Wieso muss es
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