Der menschliche Körper
Wachstuchplanen ausgebreitet werden. Für die Jungs ist das ein grausames und zynisches Training zur Fortsetzung des irdischen Lebens: Einige sind tot, aber die Überlebenden müssen die Ärmel hochkrempeln und dafür sorgen, dass sie im Trockenen bleiben.
Oberleutnant Egitto hat sich darauf beschränkt, unter einem Riss in der Naht seines Zeltdachs einen Eimer aufzustellen. Die Tropfen fallen in regelmäßigen Abständen, wie das Ticken einer Pendeluhr. Auf dem Boden beim Eingang hat er ein paar Fetzen ausgelegt, so können die Soldaten sich die Schuhe abputzen, wenn sie hereinkommen. Es kommen allerdings wenige. Nach dem Einsatz hat sich im Lager ein völlig neues Schamgefühl breitgemacht: Wer brächte es fertig, sich eine Bindehautentzündung behandeln zu lassen, eine Grippe oder harmlose Schmerzen in der Leistengegend, wenn fünf Kameraden im feindlichen Feuer gefallen sind und einer praktisch außer Gefecht gesetzt ist? Egitto ist ebenfalls von dieser unerhörten Form der Vernachlässigung seiner selbst ergriffen. Er hat sich nicht mehr rasiert, isst kaum etwas und putzt sich auch die Zähne nur noch selten.
Irene ist fort. In einem Fläschchen seiner Antidepressiva hat er einen zusammengerollten Zettel gefunden, den Inhalt hat sie durch eine Handvoll Fruchtbonbons ersetzt. Eine liebevolle Geste, aber auch ein Vorwurf. Auf dem Zettel stehen ihre Initialen und die Telefonnummer, ohne jeden Gruß oder Kommentar. Warum hat sie beschlossen, den Zettel dazulassen? Und was soll er damit anfangen? Er legt ihn zu seinen persönlichen Dingen und ist sich sicher, dass er keinen Gebrauch davon machen wird.
Er fühlt keinen Schmerz, weder über ihre Abreise noch – was wesentlich schlimmer ist – über den Tod der Jungs. Vielleicht sind es die Pillen, die ihn daran hindern, oder er selbst ist nicht mehr in der Lage dazu. Die zweite Annahme befremdet ihn, aber die erste ist auch kein großer Trost. Er erfährt etwas, was ihm schon bekannt ist: dass aller Schmerz, alles Leiden und Mitleiden sich auf die pure Biochemie reduzieren lässt – inhibierte oder ausgeschüttete Hormone und Neurotransmitter. Als ihm das bewusst wird, ist er zu seiner Überraschung empört.
Da er nicht imstande ist, etwas Besseres zu empfinden, beschließt er, sich dazu zu zwingen, das soll seine persönliche Form der Sühne sein für die Schändlichkeiten, die er mit angesehen und an denen er teilgenommen hat. An einem Freitagabend hört er Knall auf Fall auf, seine Medikamente einzunehmen. Er schraubt die Kapsel auf und lässt den pulverförmigen Inhalt in den Abfalleimer rieseln. Stattdessen kaut er ein Fruchtbonbon mit Himbeergeschmack. So unterbricht er nach acht Monaten radikal die Behandlung und verstößt mit klammheimlicher Freude gegen sämtliche Empfehlungen des Pharmaunternehmens.
Er erwartete sich wer weiß welche Erschütterungen von der Beendigung der Einnahme, dagegen geschieht tagelang nichts, abgesehen von Schlaflosigkeit und einer rasch vorübergehenden Halluzination. Seine Seele ist eine Ebene. Das Leiden bleibt eingefroren, anderswo. Der Oberleutnant beginnt sogar an seiner Existenz zu zweifeln. Er empfindet nichts während der Totenmesse, die in der Kantine von einem auf Besuch weilenden Kaplan gehalten wird. Er empfindet nichts, als er am Telefon zu dem Obergefreiten Torsu etwas murmelt, der in Italien auf den dritten kieferchirurgischen Eingriff zur Wiederherstellung seines Gesichts wartet. Er empfindet nichts beim schwachen und abwesenden Klang der Stimme Ninis und auch nichts, als der erste Sonnenstrahl seit Tagen durch die Wolken bricht und das Gebirge in seiner goldenen Pracht zeigt.
Nach dem Mittagessen geht er immer noch zur Besprechung mit Ballesio. Anfangs scheint der Oberst unentschieden, welche Haltung er zur allgemeinen Trauer einnehmen soll. Dann kommt er offenbar zu dem Schluss, dass es am besten ist, dem Instinkt zu folgen, das heißt weiterzumachen, als ob nichts wäre. Er hat seine ganz eigene Art zu versuchen, Egitto aufzurichten, die sich aber als nicht sehr wirksam erweist. Immer öfter verharren sie schweigend, Ballesio auf die Pfeife konzentriert, die er unlängst hervorgeholt hat, Egitto die Rauchringe beobachtend, die zwischen den Lippen des Obersten hervorkommen und sich beim Aufsteigen auflösen.
Es ist sein Körper, der zuerst reagiert. Er bekommt Fieber, hohes Fieber, in der Nacht ist es bei vierzig Grad. Seine Körpertemperatur ist seit seiner Kindheit nicht so hoch gestiegen, damals
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