Der menschliche Körper
horchte Ernesto ihn ab, Nase und Mund hinter Mundschutz. In seinen Schlafsack gehüllt, schwitzt Egitto reichlich, und er hat Schüttelforst. Er bleibt zwei Tage lang im Bett, aber er bittet nicht um Hilfe. Er lässt sich eine Schüssel Wasser bringen, die ihm reicht, um nicht aus dem Zelt zu müssen. Ballesio kommt ihn einmal besuchen, aber er ist zu krank, um sich später daran zu erinnern, was er ihm gesagt und was der andere geantwortet hat. Er erinnert sich nur, dass er, während sein Vollmondgesicht über ihm hing, unaufhörlich redete und mit den Händen gestikulierte.
Und dann, so plötzlich, wie es gekommen ist, verschwindet das Fieber und lässt ihn träumerisch und seltsam energiegeladen zurück, entschlossen zu einer Tat, die er noch nicht unternommen hat und von der er noch nicht einmal etwas weiß. Egitto hat Lust zu gehen, sich zu bewegen, er durchquert das Lager mehrmals am Tag der Breite und der Länge nach. Wenn er nur könnte, würde er hinauslaufen und kilometerweit rennen, ohne zu ermüden.
Das einzige zur Verfügung stehende Mittel, um sich zu entfernen, ist jedoch das Telefon. Nach zehn Tagen, in denen er es immer wieder aufgeschoben hat, entschließt er sich, Mariannas Nummer zu wählen.
«Ich habe dir acht E-Mails geschrieben,
acht
. Ich habe bei allen möglichen Stellen im Ministerium angerufen, um mit dir zu sprechen, und du hast nicht
geruht
zurückzurufen. Hast du eine Vorstellung davon, wie
schlecht
es mir gegangen ist? Es war
grausam
. Hast du nicht an all die Sorgen gedacht, die ich mir womöglich mache?»
«Es tut mir leid», sagt Egitto, aber es ist eine automatische Entschuldigung.
«Jetzt hoffe ich, dass sie dich nach Hause zurückschicken. Sofort.»
«Mein Einsatz hier dauert weitere vier Monate.»
«Ja, aber du hast ein Trauma erlebt.»
«Wie alle anderen hier auch.»
Marianna schnaubt laut. «Ich habe überhaupt keine
Lust
, diese Diskussion mit dir zu führen. Ich habe … genug davon. Hast du wenigstens Nini angerufen?»
Es ist das erste Mal in vielen Jahren, dass Marianna sich für die Mutter interessiert, für die Tatsache, dass Nini seinetwegen in Sorge sein könnte. Egitto ist verblüfft.
Natürlich täuscht er sich, die Illusion dauert keine fünf Sekunden.
«Hast du wegen der Wohnung mit ihr gesprochen?», fährt die Schwester fort.
«Nein.»
«Alessandro, ich hatte dich gebeten, dich darum zu kümmern. Dies ist der Augenblick für Immobiliengeschäfte, ja, wir sind schon
zu spät
dran. Bei der Immobilienkrise verliert dieses Objekt von Tag zu Tag an Wert.»
Er versteht es erst jetzt: Er besteht weder aus Mitleid noch aus Barmherzigkeit, er besteht nicht aus Leiden. Der Pfropfen, der seine Emotionen unter Verschluss hält und jetzt herausgepresst wird, ist ein Pfropfen aus purer Wut. Er löst sich in der Höhe des Magens, fährt ihm durchs Rückenmark und verzweigt sich bis in die feinsten Nervenenden.
«Du hättest mit ihr reden können», sagt Egitto.
«Alessandro, bist du verrückt geworden? Ich
rede
nicht mit ihr.»
«Du hast Interesse am Verkauf der Wohnung. Du hättest mit ihr reden können.»
«Hör mal, was du durchgemacht hast, dürfte nicht angenehm gewesen sein. Das ist mir klar. Aber das gibt dir nicht das Recht,
auf mich
loszugehen.»
«Ich liebe diese Wohnung.»
«Du liebst diese Wohnung nicht.
Wir
lieben diese Wohnung nicht, erinnerst du dich? Erinnerst du dich, wie wir sie nannten?»
Ceausescu-Palast, so nannten sie sie. «Das war vor langer Zeit.»
«Das heißt
nichts
, Alessandro. Nichts. Nicht einmal zu meiner Hochzeit sind sie gekommen, erinnerst du dich? Das war ihnen egal.»
«Du hast mich nie gefragt, wie es hier ist.»
«Wovon redest du?»
«Du hast mich nie gefragt, wie es ist. Hier.»
«Ich glaube, ich kann es mir vorstellen, dieses Afghanistan.»
«Aber nein. Du kannst es dir nicht vorstellen. Hier ist ein riesiger Berg ohne einen Baum und ohne ein Büschel Gras. Jetzt ist der Gipfel schneebedeckt, und die Grenze zwischen Schnee und Fels ist so klar und deutlich, wie man es sich gar nicht vorstellen kann. Und viel weiter weg gibt es noch mehr Berge. Bei Sonnenuntergang nehmen sie verschiedene Tönungen an, das sieht aus wie Vorhänge.»
«Alessandro, dir geht’s nicht gut.»
«Das ist ein großartiger Ort.» Die Flecken pulsieren alle gleichzeitig, sie sind im Begriff aufzuspringen. Vielleicht gibt es darunter eine neue Haut, eine unversehrte Epidermis. Oder da ist nur lebendes Fleisch, getränkt mit Blut.
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